Slyrus -Neue Wege-

Die Mandragora Prophezeiung

   »Vernehmt die Botschaft aus dem Mydriel-Strahl.

Die große Mutter Erde Maiztasuna Lurrasa ist zornig. Wälder stehen in lodernden Flammen. Aus ihren Bergen quillt das rote Magma und ihre Aschenwolke verdunkelt das Firmament. Ihr Wehschrei knickt Bäume und die Tränen lassen Bäche und Flüsse anschwellen. Ihr Odem bläst Pestilenzia in die Lungen der Geschöpfe. Aus den tiefen Schürfwunden fließt stinkender Eiter. Sie spuckt das Gift aus, das die Menschen achtlos vergraben haben.

Das ist es, was gegenwärtig geschieht.

Die Zeit ist wie der dunkle Schatten, der erst durch das gleißende Sonnenlicht sichtbar wird.

Fürchtet euch nicht ihr Volk der Bergwald Wichtel. Wenn ihr das versteht, wird der Wandel von der scheinbaren Dunkelheit des Schattens zum Licht sehr einfach und leicht werden. Ihr müsst euch nur umdrehen.«

Mandragora, die alte, verhutzelte Heilerin und Schamanin, blickte mit scharfen Augen unter ihrem Kopftuch hervor und musterte die Runde der Bergwald-Wichtel in den Tiroler Alpen bei Brandenberg. Sie sah die ehrfurchtsvollen, jedoch völlig ratlosen Gesichter. Die Zuhörer hatten nicht ein einziges Wort der Botschaft verstanden.

Seufzend erhob sie die Stimme.

»Bringt mir den Menschen her!«

Kapitel 1

Severin Hofer stand am Vormittag in seinem Wohnzimmer in Schliersee und studierte den Wandkalender. Heute war Samstag, der 19. April 7:00 morgens. Obwohl die Physiotherapiepraxis geschlossen war und er keine anderweitigen Verpflichtungen hatte, war er früh aufgewacht.

Ein Zupfen am Hosenbein und ein diskretes Räuspern schreckten ihn auf.

Severin blickte verwundert nach unten. Was er dort erblickte, versetzte ihn in Alarmbereitschaft.

»Bertl, was machst du hier!«

Vor ihm stand Bertelnuss, der Senator der Bergwaldwichtel, mit ernstem Gesicht und zerknautschte die rote Zipfelmütze.

Oh, je. Dieses Verhalten kenn ich. Das bedeutet mit Sicherheit unangenehme Nachrichten. Er runzelte die Stirn.

»Hat man sich mich geschickt dich zu holen.«

Befehle konnte Severin überhaupt nicht leiden. »Und wer? Dein König Corylius oder schlimmer noch, Rosebart von den Steenhugger Zwergen?«, blaffte er die kleine Gestalt an, die ihm gerade Mal bis zu den Knien reichte.

»Ist sich Mandragora. Sie will sich dir bei unserigem König eine Proverzeihung mitverteilen.«

Mit gerunzelter Stirn überlegte Severin: Wer zum Kuckuck ist Mandra …? Was verzeihen? Oder meint er Weissagung? Dann kam ihm ein Bild in den Sinn. Verhutzeltes Gesicht mit Warze und Kopftuch. Sah unheimlich aus, wie eine Hexe aus den Märchenbüchern. Genau, sie war die Schamanin und Heilerin des Wichtelvolks. Ich lag nach einem üblen Schlag auf den Kopf unter einem Wurzelgeflecht. Sie hat mich geheilt, um kurz darauf eine wüste Beschimpfung loszulassen, ich würd meine Fähigkeiten nicht anwenden.

»Prophezeiung?«, hakte er ungläubig nach. »Über was?« Dabei spürte er eine leise, allerdings beunruhigende Neugierde.

Bertl zuckte mit den Schultern und hob unwissend die Hände.

Severin verfiel in ein nachdenkliches Schweigen. Er rechnete nach: Seit der letzten Aktion in der Toskana waren drei Jahre ins Land gegangen. Mir graust es immer noch bei dem Gedanken an die Folterungen. Energisch verkündete er: »Du weißt genau, ich habe mir nach der Italiengeschichte geschworen, weder zwergische noch wichtelmäßige Abenteuer mitzumachen.«

Bertls Bart wippte auf und ab, da der Wichtel eifrig nickte. »Hab sich‘s nicht vergessen, nur es sich vergibt sich verweitertes Verkommnis.«

»Noch was?« Das Misstrauen stand Severin nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben. Er ahnte, wenn die Informationen scheibchenweise kamen, verbargen sich dahinter meist mehr schlechte Nachrichten.

 »Ja, die Erde brummelt.«

»Ein Erdbeben?« Erschrocken richtete sich Severin auf.

»Nein, ist sich anders. Ist sich wie Bienenstock oder Schnurren von Generator.«

»Treiben schon wieder irgendwelche Schurken bei euch ihr Unwesen?« Severins Stimme klang besorgt und abweisend zugleich.

»Ist sich mir nichts bekannt.« Bertl trat von einem Fuß auf den anderen und sah ihn mit seinen Dackelaugen an.

Heftig schüttelte Severin den Kopf, um die alten Erinnerungen zu vertreiben.

Urplötzlich waberte hinter dem Wichtel die Luft. Aus einem Kreisel schälte sich die Gestalt des Berggeistes.

»Slyrus, was machst du hier?«, entfuhr es Severin verblüfft. »Hab dich seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen.«

Wenn der da auch noch erscheint, ist wohl Größeres im Gange. Aber ich will kein neues Abenteuer erleben, bockte er und vergaß, dass Slyrus seine Gedanken lesen konnte.

»Es geht nicht immer nur um dich!« Der Berggeist wuchs bis zur Decke und donnerte auf den Menschen herunter.

»Ja, aber …«

»Himmel noch mal! Ich kann solche Ausflüchte nicht mehr hören.«

Erschrocken klappte Severin den Mund zu.

»Ich hab dir das letzte Mal schon gesagt, du kannst dich der Verantwortung nicht entziehen. Nicht mit den Fähigkeiten, die du erreicht hast.«

Severin verzog das Gesicht und setzte zu einer Antwort an.

»Kein Wort jetzt! Schlimm genug, dass du dich drei Jahre lang zurückgezogen hast.«

Der Mund stand bereits zu einer Erwiderung offen.

»Still«, donnerte Slyrus. »Elisabeths Tod vor eineinhalb Jahren ändert nichts daran. Du kannst dich nicht ewig verstecken und die Trauer als Grund für deine Angst vorschieben.«

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich fühle mich gar nicht mehr so traurig. Na ja, wenigstens nicht immer. Ich möchte doch nur ein beschauliches Leben führen, ohne bei jedem Abenteuer in Lebensgefahr zu geraten, maulte Severin innerlich.

Der Berggeist erwiderte streng: »Stimmt nicht. Im Grund deines Herzens ist es dir stinklangweilig und du sehnst dich heimlich nach Abwechslung.« Dann fügte er milder hinzu: »Bevor du eine Entscheidung triffst, denk daran, Mandragora könnte auch positive Nachrichten haben. Eine Prophezeiung muss nicht zwangsläufig negativ sein.«

Severin sah Slyrus in die Augen und bemerkte ein feines Lächeln in dessen Augenwinkeln. »Erwischt«, gestand er. »Das war meine Befürchtung. Hab schon wieder vergessen, du liest in den Gedanken wie in einem offenen Buch.«

»Wenn du sie mir geradezu entgegenschleuderst, kann ich gar nicht anders.« Begleitet wurden die Worte von einem dröhnenden Lachen, das allen Missmut wegschwemmte.

»Na gut, dann komm ich mit«, beschloss Severin mit einem tiefen Seufzer.

Hoffentlich bereu ich den Entschluss nicht, fügte er gedanklich hinzu.

Kapitel 2

»Bärbel, ich weiß, du arbeitest ja die ganze Woche und hast normalerweise am Montag frei. Könntest du eventuell trotzdem kurzfristig kommen, falls ich um acht Uhr nicht in der Praxis bin?« Severin lauschte gespannt auf eine Antwort.

»Fein. Es gibt einen Notfall in Tirol. Ich versuch, pünktlich zurück zu sein. Leider weiß ich aus Erfahrung, es kann immer was Unvorhergesehenes dazwischenkommen.« Lächelnd legte er den Telefonhörer auf die Ladestation. »Das wäre auch geklärt. Wie bist du überhaupt hergekommen?«, fragte Severin den Wichtel, der sich möglichst unauffällig im Hintergrund hielt.

»Mit dem Adlerigen.« Bei der Erinnerung verzog er säuerlich das Gesicht.

»Donnerwetter, wenn du auf dem Adler hergeflogen bist, dann ist‘s wirklich wichtig.« Severin wusste, Bertl hasste Fliegen wie sonst noch was.

Er überlegte: Was brauch ich. Er ging er in die Speisekammer, die gleichzeitig Abstellraum war und zog den Rucksack aus dem Regal. Früher war der Ranzen immer griffbereit gepackt. So ändern sich die Zeiten.

Er stopfte Verbandszeug, eine Wasserflasche, Taschenlampe, das Schnappmesser in den Sack. Dazu eine lange, dünne Reepschnur und obenauf einen Regenumhang. Schnee liegt hoffentlich nicht mehr viel, aber das Wetter schaut nicht stabil aus, überlegte er und packte noch zwei Müsliriegel in die Seitentaschen. Dazu eine Tafel Schokolade.

Der begehrliche Blick des kleinen Mannes sah zum Steinerweichen aus. Verständnisvoll grinsend drückte er ihm einen Schokoriegel in die Hand und wurde mit einem strahlenden Lachen belohnt. Nun verschwand Severin im Schlafzimmer und zog sich um. Eine Wäschegarnitur zum Wechseln wanderte ebenfalls in den Sack.

»Pack ma‘s!«, rief er dem Wichtel überschwänglicher zu, als ihm tatsächlich zumute war. In der Garderobe schlüpfte er zuletzt in die Daunenjacke und öffnete die Haustüre.

»Hast sich ja immer noch gleicherigen Stinkerkarren.«

»Der Toyota tut‘s schon. Bin ja kein Krösus.«

»Kröte?«, fragte Bertl ungläubig.

Severin lachte, ohne zu antworten.

Kaum saß er im Wagen, überkam ihn ein lang vermisstes Gefühl von Abenteuerlust und Vorfreude auf Abwechslung vom Alltag.

»Hast sich dich was vergessen«, ermahnte Bertl.

»Hä, was?« Severin runzelte die Stirn.

Der Wichtel deutete auf das Handgelenk.

»Der magische Wichtelarmreif, natürlich.« Er ging in die Wohnung zurück und schloss den Tresor auf. Dort schlummerte der Reif seit drei Jahren zuunterst, verdeckt von irgendwelchen Dokumenten. Nachdenklich drehte ihn Severin hin und her. Schließlich steckte er ihn entschlossen in die Innentasche des Anoraks und zog den Reißverschluss zu.

Während der Fahrt stand der Wichtel verdreht auf dem Beifahrersitz, denn er fand keinen passenden Haltegriff für seine Größe. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit einer Hand die Metallstrebe der Kopfstützen zu umklammern. In dieser Haltung starrte er schweigend auf die vorbeiziehende Landschaft. Am Ortsrand von Neuhaus blickte er zu Severin hinüber. »Wie ist sich deine Frau gestorben?«, fragte er mit leiser Stimme.

Ein überraschter Blick zu seinem Beifahrer. Er sah ein ehrlich bekümmertes Gesicht. »Woher weißt du das überhaupt?«, wollte er argwöhnisch wissen. Haben die Wichtel mich schon wieder heimlich beobachtet?

»Nein, die Heinzelwichtel haben es sich rumverzählt. Wir uns wissen, was sich ist geschehen, aber nicht wie.«

Bertls Dackelblick tat seine Wirkung. Severin entspannte sich. »Übrigens, wir niemals nixig vergessen unserige Freunde«, fügte der kleine Mann fast unhörbar hinzu. Beinahe unbeteiligt sah er bei den Worten aus dem Fenster.

Die Ohrfeige saß. Ganz automatisch ging Severin vom Gas, hielt in einer Parkbucht und stellte den Motor ab.

Bertl rutschte nervös auf dem Sitz hin und her. Dabei zerknautschte er seine Zipfelmütze, die mittlerweile mehr einem Putzlumpen glich, nicht einer stolzen Kopfbedeckung. Ein schier unendlich langes, bleiernes Schweigen lag über dem Fahrgastraum. Severin saß in Gedanken versunken auf dem Fahrersitz. Dann endlich sah er Bertl ins Gesicht. »Hast recht!« Ohne eine weitere Erklärung startete er den Motor und fuhr los.

»Und jetzterig?«

Ein vages Achselzucken. »Hilft es was, wenn ich mich entschuldige?«

Bei Bertls ungläubigem Gesichtsausdruck erschien ein leichtes Grinsen auf Severins Gesicht. »Glaub ja nicht, ich komm in Zukunft wegen jeder Kleinigkeit mit. Freundschaft hin oder her.«

Bertls Mund klappte zu.

Das Schweigen dauerte bis Bayrischzell. Nach der Abzweigung Richtung Österreich begann Severin zu erzählen.

»Der Bauernhof, in dem Elisabeth gewohnt hatte, sollte verkauft werden. So ist sie vor einem Jahr wieder in unser Haus in den ersten Stock gezogen.«

»Ja und vorher hast du die Wohnungsbehausung grundverneuert. Viel Dreck.« Bei Severins missmutigem Blick grinste der Wichtel frech zurück.

»Durch Elisabeths Rückkehr sah ich anfangs meine königlich bayrische Ruhe in Gefahr. Das Zusammenleben hat durch die getrennten Wohnungen erstaunlich gut funktioniert«, fuhr Severin kommentarlos fort. »Tagsüber ist jeder seiner Beschäftigung nachgegangen, abends haben wir fast täglich zusammen gekocht und uns über Gott und die Welt unterhalten. Dabei wurden Pläne geschmiedet und wieder verworfen, die Kinder und Enkelkinder gelobt oder bekrittelt, die politische und wirtschaftliche Lage diskutiert. Im Gegensatz zu mir hatte Elisabeth immer Angst vor einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.« Severin schmunzelte bei der Erinnerung. »Und doch war sie überzeugte Befürworterin der sozialistischen Güterverteilung. Eigenartig, stimmt‘s?«

Bertl hob nur fragend die Schultern.

»Klar, das Thema spielt bei euch Wichteln keine Rolle.«

»Menschen sind komplizierlich«, stellte Bertelnuss einsilbig fest.

Von Thiersee bis hinunter nach Kufstein fuhren sie schweigend weiter. Die Route war sehr kurvig und Severin benötigte die volle Aufmerksamkeit für die Straße. Im Inntal angekommen, nahm er den Faden wieder auf.

»Stell dir vor, Elisabeths Krankheit haben wir erst Anfang August entdeckt.«

»Ist sich sehr kurze Zeitverspannung«, bemerkte Bertl nachdenklich.

»Ja und auch nur durch einen Zufall. Sie hatte sich eine Rippe gebrochen und war wegen der Schmerzen ins Krankenhaus gegangen. Bei der Untersuchung hat man festgestellt, die Bruchstelle rührte von einer Metastase her, die den Knochen zerfressen hatte. Der Primärtumor saß in der Lunge. Schöne Scheiße!« Ungläubig schüttelte Severin den Kopf.

»Sie muss ja bereits länger gespürt haben, dass was nicht stimmt. Warum hat sie nie was gesagt? Und ich war auch so blind und hab nichts gemerkt. Das tut mir immer noch leid.«

Im Wagenfond waberte die Luft. Slyrus saß unvermittelt auf dem Rücksitz. Zum Glück hatte Severin den Wirbel im Rückspiegel gesehen und war nicht vor Schreck in den Straßengraben gefahren.

»Diese Empfindung ist völlig unpassend«, meinte der Berggeist ungewohnt mild. »Und vor allem stimmt sie nicht. Es tut dir nicht leid.«

Auch wenns schwerfiel, musste Severin ihm Recht geben. »Ja, wenn man‘s genau nimmt, ärgere ich mich über meine mangelnde Einfühlungsgabe.«

»Auch das ist unnötig!«

Ein fragendes »Hm?«, kam von der Fahrerseite.

»Es ist wie es ist. Ich hab dir schon einmal gesagt, es geht nicht immer nur um dich.«

»Aber davon rede ich doch«, protestierte Severin.

»Nein. Alle Emotionen, wie schlechtes Gewissen, nicht genug getan zu haben, Ärger über die eigene Unfähigkeit oder Unwissenheit blockieren dein Herz.«

Severin blies die Luft geräuschvoll aus, die er unbewusst angehalten hatte.

»Du hast bei der Beerdigung eine Rede gehalten. Was hast du in Bezug auf das Herz gesagt?«, fuhr Slyrus fort.

Nach einer Überlegungspause: »Ich werde dich immer liebevoll im Herzen behalten?«

»Und?«, beharrte der Berggeist unnachgiebig.

Severin kramte im Gedächtnis. »Ich glaube, es war: So lebst du durch uns und mit uns weiter und bist dennoch frei deine eigenen Wege zu gehen.«

»Du hast in der Rede noch was erstaunlich Schlaues für einen Menschen gesagt.«

»Wann und was?« Severins Stimme klang ehrlich erstaunt.

»Überleg mal, was du im Zusammenhang mit den Fragen nach deinem Befinden gesagt hast.«

»Ich bin traurig, weil du körperlich nicht mehr da bist. Ich kann dich nicht mehr um Rat fragen, kein Bussi hinüberschicken, mich über deine Rechthaberei ärgern und sagen ich liebe dich. Meinst du das?«

»Nein, hinterher«, unterbrach Slyrus.

»War das nicht so: Und andererseits fühle ich Freude, denn ich weiß, du bist daheim im Licht.«

»Genau. Das allein zählt. Richte deinen Blickpunkt nur darauf.« Die Stimme des Berggeistes verflüchtigte sich ebenso, wie die Gestalt.

In sich gekehrt spürte Severin den Worten nach und gab zu: Slyrus hat natürlich Recht. Auf diese Weise fühlt sich die Erinnerung an Elisabeth warm und leicht an.

Kapitel 3

 Endlich erreichten sie die gewundene Straße, die zum Kaiserhaus führte.

An der Kreuzung, wo die Forststraße nach Riedberg abzweigte, bremste Severin. »Wohin? Links zu den Zwergen oder hinauf zum großen Parkplatz?«

»Lieber geradeausig. Nixige rosebartlige Verlockung heute!«, grinste Bertl anzüglich.

Bei der Erinnerung verzog Severin leicht gequält das Gesicht: Damals war Rosebart noch die Zwergenprinzessin. Wir hatten eine heiße Affäre, das war schon toll. Leider endete sie in einer Pleite. Ich lass mich doch nicht wie einen Lakaien rumkommandieren. Ohne weiter auf Bertls Anspielung einzugehen, fuhr Severin den Berg hinauf und stellte den Wagen am untersten Ende der Parkfläche beim Kaiserhaus ab. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen.

»Die Wirtschaft hat wohl noch zu?«, fragte er Bertl das Offensichtliche.

Der nickte betrübt.

»Ja, ich weiß, du hättest gern ein Radler und einen Schweinsbraten gehabt. Ich erinnere mich noch an deinen unverschämten Rülpser beim letzten Besuch hier.«

Severin warf einen Blick über das Gelände.

»Verdammt viel Schnee noch. Das wird ein mühsamer Aufstieg.« Er hob den Rucksack auf den Rücken, schlüpfte in die Skihandschuhe, ergriff die Wanderstöcke und stieg die Böschung zum steilen Bergwald hinauf. Zuvor blickte er prüfend umher, ob sie jemand beobachtete, aber es war kein Mensch weit und breit zu sehen.

Nach den ersten Schritten umfing ihn der Wald. Kratziges Unterholz zwischen den aufstrebenden Fichtenstämmen erschwerte das Vorwärtskommen. Ein zusätzliches Hindernis bildeten zusammengepresste Schneehaufen, die wie Lawinen von den Bäumen gefallen waren. Im Gegensatz zum Sommer roch es nur schwach nach feuchtem Holz. Mehr Gerüche konnte Severin nicht wahrnehmen, so sehr er auch schnupperte. Was allerdings zum letzten Hiersein gleich blieb, war die Tatsache, dass die Zweige ihm Kleidung und Haut zerkratzten. Nach wenigen Metern durch das Unterholz hatte man das Gefühl, bereits fernab der Zivilisation zu sein.

»Mist, ich hatte Recht«, rief er verärgert Bertl zu. »Wie soll ich hier vorwärtskommen.«

Bei jedem Schritt brach Severin durch die harschige Oberfläche und versank bis über die Waden im Schnee. Nur mühsam war er in der Lage, mit Hilfe der Stöcke, das Gleichgewicht zu halten. Ein Blick auf seinen Gefährten hob keineswegs die Laune. Bertl marschierte lustig pfeifend auf der Schneedecke, ohne einzubrechen.

»Musst den wichtligen Ring anziehen«, bemerkte der ungerührt von Severins missmutigem Gesicht.

»Dann dauert es ewig, bis wir am Ziel sind!« Insgeheim dachte er voller Widerstand: Und jetzt erst recht nicht!

»Sind sich alle schlierseerigen Menschen so versturt?«, bemerkte der kleine Mann kopfschüttelnd.

Bereits nach einer viertel Stunde rasselte Severins Atem und er blieb des Öfteren stehen. »Kondition hab ich auch keine mehr«, stöhnte er. Bei Bertls fröhlichem Gesicht bemerkte er gemeinerweise, wohlwissend, was kommen würde: »Ich dreh wieder um. Das wird mir zu anstrengend.«

Das Lächeln des kleinen Manns verschwand wie weggewischt.

»Bitterschön, nixig zurück!«, stöhnte der Wichtel und raufte sich die Haare, wobei die Zipfelmütze nach vorn rutschte.

Bei dem Anblick musste Severin lächeln. »Mensch, beziehungsweise Wichtel, du schaust vielleicht bescheuert aus!«

Bertl stapfte beleidigt voraus.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit kamen sie zu einer freien Fläche. Ermattet sank Severin auf einen schneefreien Felsbrocken. »Wie lang noch?«, japste er übertrieben.

Keine Antwort. Bertl schwieg eisern.

Schulterzucken und ein Rundblick. Auf der Wiese war der Schnee durch die Sonneneinwirkung schon teilweise geschmolzen und vereinfachte das Gehen. Severin beschloss, den Hang zu queren. Wenn ich mich recht erinnere, müssten wir auf diesem Weg oberhalb der Wichtelbehausungen herauskommen. Im Winter sehen die Landmarken anders aus. Drum kann ich‘s nicht genau sagen. Bertl fragen wollte er zum Fleiß nicht.

Weiter unten bemerkte Severin ein rotbraunes, längliches Tier, das quer über den Hang eine Spur zog. Es hielt kurz inne und duckte sich tief in den Schnee. Es schielte misstrauisch zu ihnen hoch, sprang auf und suchte in großen Sprüngen das Weite.

Ein scharfer Pfiff.

Erschreckt fuhr Severin zusammen und duckte sich instinktiv. Der Puls raste. Werden wir angegriffen? Unbewusst wurde er an die Tretrares Leute erinnert, die ihn hier in der Gegend niedergeschlagen hatten.

Hinter sich hörte er Bertl lachen.

Ist das die Rache für meine Gemeinheit vorher, wollte Severin schimpfen, doch zu seiner Überraschung geschah etwas Unerwartetes. Die dunkle Tiergestalt kam in großen Sprüngen den Berg herauf gehetzt.

Ah, das ist ein Fuchs. Der ist ja riesig und erstaunlich dunkel. Ich dachte immer, das Fell ist rötlicher. Der buschige Schwanz mit der weißen Spitze, die Lauscher und die zugespitzte Schnauze sind jedoch eindeutig von einem Rotkittel. Das Tier beäugte ihn misstrauisch, mit stechendem Blick und fauchte ihn erbost an.

Er war so vom fauchenden Fuchs gebannt, dass er nicht auf Bertl achtete. Erst nach einem Rempler drang die Aufforderung durch: »He, hallo!«

Bei einem verwunderten Blick deutete der Wichtel auf das Handgelenk.

Ja natürlich den Armreif. Wo hab ich ihn. Geschwind rammte Severin die Stöcke in den Schnee, zog die Handschuhe aus und suchte die Taschen ab. Innen im Anorak spürte er die Umrisse des Rings. Mit steifen Fingern nestelte er am Reißverschluss.

Endlich gab die Jacke den Schatz frei. Für einen Moment betrachtete er das Kleinod und wappnete sich gegen den Schwindel. Dann streifte er den Ring über das Handgelenk.

Sofort schrumpfte er auf Zwergengröße. Severin stieß die unbewusst angehaltene Luft aus. Staunend blickte er umher.

Hab völlig vergessen, wie schön die Landschaft mit dem Armreif ausschaut. Die Farben sind heller und intensiver. Alle Gegenstände ringsum sehen ganz anders aus, als im Sommer. Die Schneedecke ist von einem gelblichen Schein überzogen. Die aperen Stellen schauen bräunlich aus, auch die Latschen haben nur einen ganz feinen Schimmer um den Stamm.

»Komm, Vulpini verbringt uns zu Corylius!«

»Was will der Humano bei uns. Der soll heimgehen!« Der Fuchs bellte die Worte und fauchte erneut bedrohlich.

»Ist sich Freunderl. Mandragora ihn versehen muss.« Bertl ließ sich von dem abweisenden Gehabe nicht abschrecken.

Zuerst erstaunte es Severin, den Fuchs zu verstehen. Dann fiel ihm die magische Wirkung des Armreifs wieder ein. Genau, damit kann ich nicht nur die Aura sehen, sondern auch hören, was Tiere sagen. Hab wirklich viel verdrängt. »Danke für dein Entgegenkommen. Ich bin schon ziemlich müde«, versicherte Severin höflich.

»Loserig, nimm die Stöcklinge mit.«

Jetzt erst fielen ihm die Gehhilfen auf, die wie Fahnenstangen in den Himmel ragten. Stimmt, ich hab sie ja neben mich gestellt, da schrumpfen sie nicht mit. Eilig zog er den Armreif ab und wuchs wieder auf Menschengröße. Nun zog er die Stöcke aus dem Schnee, lehnte sie an die Schulter und streifte den Reif erneut über. Sofort besaß er Wichtelgröße, genau wie jeder Gegenstand, der mit seinem Körper Kontakt hatte.

Bertl war schon auf den Rücken des Fuchses geklettert. Vulpini hatte sich auf den Bauch gelegt, um das Aufsitzen zu erleichtern. Ein wenig unbeholfen folgte Severin und nahm hinter ihm Platz. Mit einer Hand krallte er sich ans Fuchsfell, mit der anderen hielt er die Stöcke.

»Zu König Corylius, bitterschön«, befahl der Wichtel.

Weiß der Fuchs, wo das ist?, wunderte sich Severin einen Moment. Da das Transportmittel losraste wie eine Rakete, war keine Zeit für irgend einen anderen Gedanken, als festhalten und ja nicht herunterfallen.

Ein gutes Stück vor der Waldgrenze sprang sie unvermittelt ein Tier an, das versteckt hinter einer Latsche gelauert hatte. Instinktiv wich Vulpini mit einem Satz zur Seite aus. Trotzt aller Anstrengung, gelang es Severin nicht das Gleichgewicht zu halten. Er rutsche seitlich ab und spürte gerade noch, wie eine Kralle die Schulter aufriss. Dann krachte er mit dem Kopf auf den Boden und die Welt drehte sich im Kreis.

Kaum waren die Sternchen verblasst, erblickte Severin ein wüstes Knäuel an kämpfenden Gestalten. Der Angreifer war ein Tier mit grau gemustertem, dichtem Fell, etwa gleich groß wie der Fuchs. Ein buschiger Schwanz mit drei schwarzen Ringen wogte im Kampf wie ein Staubwedel umher. Bertl hatte einen Wanderstock gepackt und wehrte verzweifelt die Angriffe ab. Der Fuchs wiederum versuchte, den Gegner zu beißen, was in der Hitze des Gefechts nicht gelang. Der Feind besaß zudem den Vorteil von scharfen Krallen.

Sieht aus wie eine Hauskatze. Warum greift sie uns an? Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden.

Bei Bertls Aufschrei sprang Severin auf. Ohne groß nachzudenken, riss er den Armreif vom Handgelenk und griff ins Getümmel. Er bekam ein Fell zu fassen und zog es aus dem Knäuel. Wie besessen fauchend drehte sich das Tier herum und biss ihm in den Unterarm. Mit einem lauten Fluch ließ Severin los.

Wie von Furien gehetzt raste das Katzenvieh in weiten Sätzen bergauf. Warum um alles in der Welt flieht das Mistvieh nicht den Hang hinunter. Ist doch viel einfacher. Stöhnen und Fauchen lenkte die Aufmerksamkeit auf den Ort des Geschehens zurück. »Wo ist mein Reif?«, rief er erschreckt, da er nicht aufgepasst hatte, wo das kostbare Stück abgeblieben war.

Der Armreif blitze im Matsch auf. Mit einem Seufzer streifte er schnell den Ring über das Handgelenk. »Bertl, bist du schlimm verletzt?«, rief er besorgt, da er den Wichtel zusammengesunken am Boden sitzen sah.

»Geht sich schon«, stöhnte der kleine Mann.

Erleichtert spürte Severin erst jetzt seine eigenen Verletzungen. Der Kratzer an der Schulter brannte wie die Hölle. Wenigstens habe ich eine Tetanusimpfung, beruhigte er sich. Der Anorak hatte einen tiefen Riss. Der Biss am Unterarm dagegen schien nicht so arg. Durch die innere Polsterung hatte das Kleidungsstück Schlimmeres verhindert.

»Und wie geht es Vulpini?« Der Fuchs saß auf dem Boden und leckte sein linkes Bein. Dabei knurrte er bedrohlich. Der sieht nicht so aus, als könne er uns tragen, dachte Severin und meinte an Bertl gewandt: »Kannst du gehen? Bei Corylius wird uns die Heilerin verarzten.«

Kurz darauf stolperten die beiden Freunde den Hang hinab, wobei sich der Wichtel schwer auf Severin stützte. Der Fuchs hinkte schwerfällig hinterher.

So ein Bockmist! Schon wieder verwundet. Genau deshalb wollte ich nicht mitgehen. Hätte nur zu gern gewusst, warum wir angegriffen wurden, und das ausgerechnet von einer Katze.

Für eine Analyse des Geschehens war dies nicht der richtige Zeitpunkt. Das musste warten.