Slyrus -Feuer im Berg-

UNERWARTETE REISE

Es war Mittwoch, der 15. September. Ein nasskalter ungemütlicher Tag. Den Morgen des freien Praxistags wollte Severin gemütlich zeitungslesend bei einem Haferl Kaffee und Croissants verbringen. Sportliche Aktivitäten gehörten eh nicht zu seinen bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, am Allerwenigsten bei so einem Sauwetter. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er sich an die Buchhaltung setzen sollte. Der innere Faulpelz meinte, diese Tätigkeit könnte man problemlos verschieben. Der Kühlschrank und die Vorratsschränke sahen noch gut gefüllt aus, einkaufen war folglich ebenfalls unnötig.

Was fang ich nur mit dem Rest des Tages an?

Etliche Patienten standen auf der Warteliste der Homöopathiepraxis seiner Frau Elisabeth. Daher konnte auch sie nicht als Ersatz für seine Langweile herhalten.

Ein Klingeln an der Haustüre unterbrach die Überlegungen. Severin blickte auf die Uhr. Sie zeigte fünf Minuten vor neun Uhr.

Wer will denn um diese Zeit was von mir? Der Briefträger kommt sonst viel später. Ein Vertreter, die Zeugen Jehovas? Hoffentlich nicht die Polizei, wie kürzlich mit dem Haftbefehl der österreichischen Behörden.

Mit gemischten Gefühlen schlurfte Severin in den Hauslatschen zur Türe. Draußen stand ein Mann in der grauen Uniform eines Chauffeurs. Der perfekt gebügelte Anzug, die dezente Krawatte und der tadellose Haarschnitt, vermittelten einen seriösen Eindruck.

Hinter ihm parkte längs eine dunkle Edelkarosse. Die Farbe war schwer zu erkennen im diffusen Tageslicht. Das Kennzeichen konnte er nicht sehen.

Bankerauto oder Regierungskutsche, geisterte ein Gedanke durch den Kopf angesichts des edlen Gefährts.

Mit an die Brust gehaltene Schirmmütze fragte der Mann höflich im perfekten Schriftdeutsch: »Herr Hofer, nehme ich an.«

Nach Severins Nicken fuhr der Chauffeur fort: »Ich wurde beauftragt, Sie abzuholen.«

»Warum, wohin?« Ein leichter Anflug von Panik schlich sich in Severins Stimme.

»Es tut mir leid. Ersteres kann ich nicht beantworten und Ihnen Letzteres zu offenbaren, liegt außerhalb meiner Kompetenz.«

Auf Grund der höflichen Sprache wechselte Severin von Grant zu Ironie. »Wenn das so ist, richten Sie Ihren Auftraggebern aus, uns wurde schon als Kind eingebläut, keinesfalls zu fremden Männern ins Auto zu steigen.«

Der Angesprochene lächelte. »In diesem Fall soll ich Ihnen mitteilen, es handelt sich um internationale Sicherheitsfragen. Mehr Informationen besitze ich nicht. Sie müssen verstehen, der Ort des Treffens ist geheim.«

Severins Gedanken begannen zu rotieren. Der dialektfreien Sprache des Chauffeurs ist leider kein Hinweis zu entnehmen, wohin die Reise geht. Der Einzige, der in Frage käme, ist der Chef des Österreichischen Geheimdienstes, mit dem ich bei der letzten Abenteuerreise zu tun hatte. Das kann ja kaum sein. Hat der mich an die Bayrische Regierung verpfiffen?

Nach einer Pause, wohl um Severin Zeit zu geben, das Gehörte zu verdauen, fuhr der Fahrer fort: »Es dauert voraussichtlich nur ein paar Stunden. Heute Abend bringe ich Sie wieder zurück.«

»Und sind’s sicher, sie meinen mich?«

Erneut das vertrauenserweckende Lächeln. »Ganz gewiss!«

Letztendlich war es diese Offenheit – allerdings auch ein heimlicher Stolz, für so bedeutend gehalten zu werden -, die Severins Zweifel in den Hintergrund drängten.

»Wollen’s reinkommen, während ich mich umzieh?«

»Danke. Ich warte im Wagen.«

Was soll ich anziehen?, überlegte Severin hektisch. Sportlich passt schlecht bei der Karosse. Lässige Kleidung? Besser nicht. Dunklen Anzug oder Lodenjacke mit schwarzer Hose?

Er entschied sich für eine Mischung aus legerer, dunkelgrüner Freizeithose, Trachtenhemd und Jackett. Er zog den Hosenbund hoch, schnallte den Gürtel fest und schlüpfte in die helle statt der grauen Trachtenjacke.

Ein paar Minuten später öffnete Severin die Türe und wollte seinen bordeauxroten Lieblingsregenschirm mit Entenkopf aufspannen, doch augenblicklich stieg der Chauffeur aus dem Auto und eilte mit offenem Regenschirm auf ihn zu.

»Sie benötigen Ihren Schirm nicht.« Zuvorkommend geleitete er den Gast trockenen Fußes zum Fond des Wagens, wo er ihm höflich den Wagenschlag aufhielt.

Mit einem kleinen Seufzer plumpste Severin in den hellen Ledersitz. Die Wagentür schloss beinahe lautlos, nur mit einem leisen, schmatzenden Ton.

Der Fahrer nahm den Platz hinter dem Steuer ein, legte die Schirmmütze auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Geräuschlos glitt der BMW aus der Einfahrt.

Innerlich in Habachtstellung verfolgte Severin die Reiseroute. Wenn’s ein Gefährt der Österreichischen Regierung ist, müsste er an der Hauptstraße rechts nach Bayrischzell und Landl abbiegen. Zumindest fanden die letzten Besprechungen in Innsbruck statt.

Wohl nicht. Das Fahrzeug bog an der Kreuzung links Richtung München ab.

In Hausham kann er noch nach Tegernsee und den Achenpass in Richtung Tiroler Hauptstadt abbiegen.

Auch diese Überlegung wurde mit dem Regenwasser in den Gully gespült. Der Wagen fuhr unbeirrt geradeaus weiter.

Doch ein Treffen in der Landeshauptstadt?

Erneut falsch gedacht. Am Ortsende von Miesbach nahm das Auto am Kreisel den Weg in Richtung Salzburger Autobahn und bog vor Irschenberg tatsächlich auf die A8 ab.

Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe und überdeckte das leise Flappen der Scheibenwischer. Ansonsten war kaum ein Fahrgeräusch zu hören. Der Wagen war erstaunlich gut schallisoliert im Vergleich zu Severins Toyota.

Da er im Augenblick keine weiteren Überlegungen zum Ziel der Reise anstellen wollte, lehnte er sich in den Ledersitz zurück. Der Blick schweifte durch die verregneten Scheiben über die vertraute Landschaft, von der man nicht allzu viel sah. Kurz darauf wurden die Erinnerungen von Bildern überlagert …

Mir kommt’s vor, als wenn das letzte halbe Jahr im Flug vergangen ist. Die Zeit war mehr als aufregend. Dennoch habe ich das Gefühl von Irrealität, als wäre ich in einem Traum gefangen gewesen, sobald ich drüber nachdenk.

Im März hat mich mein Freund Buale mit ausgestreckter Hand auf das Bild an der Hagenbergwand am Spitzing aufmerksam gmacht. »Schau, da is der Berggeist.« Durch den Schnee der Nacht zuvor waren die Konturen eines elfenartigen Kopfes mit weißem Bart und grimmigen Gesichtszügen sichtbar geworden.

Wie es mit außergewöhnlichen Dingen so ist, muss ich bei jedem Vorübergehen auf den Berg starren, ob ich wollte oder nicht. Ähnlich einem Märchen hat dieses beinahe zwanghafte Verhalten die Phantasiegestalt lebendig werden lassen.

Wenig erbaut von der Störung, überhäufte mich der Geist mit wüsten Beschimpfungen: “Ich hab ja keine Ahnung von meinen wahren Fähigkeiten.”

Natürlich wollt ich wissen, was der Berggeist mit der Bemerkung meinte. Mit einer einfachen Erklärung war es leider nicht getan. Zuerst musst ich ihm einen Namen geben und hab ihn Slyrus getauft. Daraufhin bekam ich drei Lernaufgaben auferlegt. Als er endlich mit meinen Leistungen zufrieden war, befahl er mir, eine Visionenreise im Gebirge anzutreten. Ich durft erst zurückkommen, nachdem ich das ›Wahre Ich‹ gefunden hatte.

Zum Glück erhielt ich Hilfe von vier Tierhelfern: Kadmar, dem Bären, Gryson, dem Wolf, der Maus Clyfar und dem Pelikan Adar. Zuletzt erschien noch Mingling, der Drache der Verwandlung. Ohne diese neuen Freunde hätt ich die Abenteuer, welche meine verborgenen Fähigkeiten ans Licht brachten, nie meistern können.

Wie aus einer Trance wachte Severin auf.

Die Zeit vergeht unheimlich schnell. Ist das wirklich alles mir passiert und erst anderthalb Wochen her, seit ich von der österreichischen Abenteuerreise mit Wichteln und Zwergen heimgekehrt bin? Hätt mir vor einiger Zeit jemand prophezeit, ich treff mich mit einem Berggeist, Zwergen und Wichteln, hätt ich ihn für vollkommen bescheuert gehalten.

Ein blaues Hinweisschild huschte vorbei – Autobahnkreuz Salzburg/Innsbruck-Brenner 1500m – und riss Severin aus der Rückschau. Er richtete sich im Autositz auf und spähte gespannt durch die regennasse Scheibe. Der Wagen glitt im vorschriftsmäßigen Tempo von 120 km auf der zweiten Spur von links dahin. Der Fahrer machte keinerlei Anstalten, auf die Abfahrt Richtung Inntal-Autobahn einzubiegen.

Mysteriös und beruhigend zugleich. Wenigstens scheint es keine Entführung nach Italien zu sein.

»Hör auf, dir unnütze Gedanken zu machen«, murmelte er vor sich hin.

Das leise Rauschen und die schlechte Sicht bewirkten, dass sich Severin nach wenigen Kilometern entspannte und den Gedankenfaden wieder aufnahm.

Ich geb’s zu, neugierig hat mich der Hinweis ›internationale Sicherheitsfragen‹ schon gemacht. Gehts immer noch um die alte Geschichte mit der Firma Tetrares in den Brandenberger Alpen? Ich dachte, das wäre längst erledigt!

Angefangen hat das letzte Abenteuer mit dem Erscheinen eines Wichtels. Ich seh noch, wie Bertlnuss, der Bergwaldwichtel, mit seinen übergroßen Latschen und seinem struppigen Bart vor mir stand und seine schwarze Lederkappe zerknautschte. “Du musst uns ganz doll sofortigster schnelleriger verhelfen.”

Severin lächelte bei diesem Bild still in sich hinein.

Der kleine Mann hatte noch was gut bei mir, da ich eine schwierige Aufgabe nur mit seiner Hilfe bewältigen konnte. Drum bin ich mitgefahren.

In der Nähe des Kaiserhauses in Tirol hab ich, neben einem Zwergenkönig und seiner Tochter, die Bedrohung kennengelernt, wegen der mich der Wichtel gerufen hatte. Überdimensionale Kellerasseln mit roten Augen und Greifzangen haben alles gefressen, was ihnen in die Quere kam. Das war wirklich gruselig.

Nach vielem Hin und Her, einer Gefangennahme, Verhaftung und Flucht hab ich mit Hilfe der Zwerge und des Österreichischen Geheimdienstes die Ursache aufdecken können. Eine internationale Firma hatte im Berg ein Versuchslabor zur Herstellung von biologischen Kriegswaffen betrieben. Dabei ist ihnen ein Teil der Mutanten ausgekommen.

Letztendlich ist das Komplott, das sich zu einer Spionageaffäre ausgeweitet hat, zerschlagen worden. Ohne meine Tierfreunde und Slyrus hätt ich das Abenteuer nie im Leben beenden können.

Severin fühlte ein warmes Ziehen in der Brust, als er sich das Bild des Berggeists vor Augen rief.

»Du hast mich gerufen, mein Herr und Meister.« Eine spöttische Bemerkung ertönte von der linken Seite her.

Erschrocken ruckte Severins Kopf herum. Neben sich sah er die halb durchsichtige Gestalt eines elegant gekleideten Herrn, die grauen Haare zum Pferdeschwanz gekämmt. »Was machst du hier?«, fragte Severin leise.

Bevor der Berggeist antwortete, drang die Stimme des Chauffeurs in Severins Bewusstsein.

»Was haben Sie gesagt?«, fragte Severin nach. »Ich war gerade in Gedanken.«

Mit einem verständnisvollen Lächeln wiederholte der Fahrer: »Sollten Sie Durst oder Hunger verspüren, in der Lehne zwischen den Sitzen finden Sie Getränke, Sandwiches und Knabbergebäck. Ferner können Sie jederzeit fernsehen. Die Fernbedienung sowie Kopfhörer sind im Staufach Ihrer Armlehne.«

»Danke, sehr freundlich. Vielleicht später.«

»Ich bin für ihn unsichtbar.« Slyrus nahm das Gespräch wieder auf. »Und wir unterhalten uns gedanklich.«

Severin nickte. Im Kopf formulierte er die Frage: »Was machst du hier?«

»Du hast mich herbeizitiert.«

»Ich?!« Um ein Haar hätte er laut gerufen, konnte sich jedoch nach einem Blick in die neugierigen Augen des Chauffeurs im Rückspiegel gerade noch zurückhalten.

»Du weißt doch mittlerweile, wie das geht.«

»Ja, stimmt, ich hab grad intensiv an dich gedacht«, gab Severin zu.

»Und den brüllenden Gedanken mit einem starken Gefühl gekoppelt. Das ist unwiderstehlich.«

»Sorry für die Störung. Das nächste Mal versuch ich mental zu flüstern. Eigentlich gibt’s ja keinerlei Grund zu kommen. Ist schließlich kein Notfall.«

»Bist du sicher?«, ertönte eine sanfte und dennoch strenge innere Stimme, die Ausflüchte nicht zuließ.

»Na ja … Ich hab nur Bedenken …« Severin unterbrach sich. »Ich geb zu, es sind gewisse Ängste vorhanden, was diese Reise angeht, und gleichzeitig bin ich unglaublich neugierig, was dahintersteckt.«

»Neugierde kann ein Fluch und ein Segen sein. Im Wort steckt schon der Sinn.«

»Versteh. Es macht gierig und damit süchtig!« Severin atmete tief durch. Sucht ist ein Thema, das ich lieber verdränge. Abhängigkeit ist grässlich. Ich erinnere mich mit Schrecken an die Nikotinsucht. Eine arme Sau, wer an harten Drogen hängt! Da ist Verlangen nach was Neuem harmlos dagegen. Severin überlegte, ob es auch positive Seiten der Neu-Gierde gibt. Was steckt noch drin in dem Wort? Ist es nicht die mildere Form von Hunger? Zum Beispiel auf Essen, Bildung, Anerkennung, Liebe und, und, und …

Bei der Überlegung spürte er, wie der Berggeist nickte. Leise hörte er: »Letztendlich Sehnsucht nach Leben!« »Versteh«, antwortete Severin nachdenklich.

Eine Weile später erklang nochmals Slyrus Stimme: »Von dieser Reise geht keine Gefahr aus!«

So wie er das Wort ›dieser‹ betonte, lief es Severin kalt den Buckel runter. »Was soll das bedeuten?«, wollte er fragen, sein Mentor war jedoch verschwunden.

Unaufhaltsam glitt der Wagen Richtung Salzburg. Die Hinweisschilder verschwammen im Regenschleier zu blauen Farbklecksen. An der Grenze verringerte der BMW kurzfristig das Tempo und beschleunigte anschließend auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von einhundert dreißig Stundenkilometern.

Ob wir in der Mozartstadt rausfahren? Eine schöne Stadt. Früher, im Internat in Berchtesgaden am Obersalzberg, haben wir jede Möglichkeit genutzt, um in die ›Großstadt‹ zu gelangen und Crêpes zu schlemmen. Und erst die köstlichen Bratwurst-Hotdogs in einer länglichen Semmel, auf einen Dorn gespießt, heiß gmacht … Zu mehr reichte das Taschengeld leider nur selten. Essen konnten wir damals zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Bei den Erinnerungen lief ihm unweigerlich der Speichel im Mund zusammen. Severin öffnete die Klappe in der Lehne und griff nach den Sandwiches. Eines war mit Käse, das andere mit rohem Schinken belegt. Als Fleischkatze wickelte er das Schinkenbrötchen aus und biss in das weiche Weißbrot.

»Sehr fein«, bemerkte er kauend, als er die lächelnden Augen des Chauffeurs im Rückspiegel sah.

Währenddessen hatte der Wagen alle Ausfahrten zur Mozartstadt passiert und folgte der A1 in Richtung Linz-Wien.

Dann wird der Auftraggeber vermutlich doch der Erwin Maier sein. Was mich dort wohl erwartet?

Kurzzeitig wollten erneute Bedenken aufkeimen. Severin verdrängte sie energisch und beschloss, der Situation das Beste abzugewinnen und die Reise als Abwechslung vom Alltagstrott zu betrachten.

Als sie das Gebiet um Linz erreichten, besserte sich das Wetter. Die Sonne spitzte sogar zwischen den Wolken hindurch.

Severin genoss es, ausführlich die Landschaft in Augenschein zu nehmen. Tolle Gegend! Als Fahrer kann ich immer nur kurz nach links oder rechts schauen. Bei Melk erhaschte er einen Blick auf die Donau. Ein Lastkahn stampfte durch das grau-grüne Wasser, während er eine kleine, weiße Bugwelle vor sich hertrieb.

Endlich erreichten sie die Wiener Vororte. Am Stadtrand bog der Wagen in Richtung Innenstadt ab.

Der Fahrer wurde im Verhältnis zu vorher richtiggehend gesprächig. »Waren Sie schon einmal hier?«, fragte er seinen Fahrgast mit einem kurzen Blick nach hinten.

»Ja, aber das ist bald dreißig Jahre her. Ich kann mich nur mehr an wenig erinnern, außer intensiven Nachwirkungen vom Heurigen.«

»Ich nehme die Route durch die Innenstadt«, meinte der Chauffeur liebenswürdig. »So bekommen Sie einige der Sehenswürdigkeiten zu Gesicht.«

Im Blickfeld der Frontscheibe tauchte ein imposantes Schloss auf. Die Straße endete an einer T-Kreuzung vor dem Park. Der Wagen bog nach links ab. Ein Reiterstandbild mit wild steigendem Pferd und einem Reiter mit Fahne in Siegespose huschte am Fenster vorbei. Für einen Moment sah es aus, als stünde der Wagen, während sich die Statue bewegte.

»Das ist der Heldenplatz mit der Hofburg«, erklärte der Fahrer.

»Kommen Sie aus Wien?«, wollte Severin wissen, da dessen Sprache keinerlei Hinweis auf eine Volkszugehörigkeit zuließ. »Na geh hearst, freilich bin i a Weaner.« Severin lachte. »Ja, jetzt glaub ich’s.

Die Fahrt führte durch die belebten Straßen am Volksgarten, am Burgtheater und an der Universität vorbei. Einige Minuten später erreichten sie einen modernen, weißen Bürokomplex, der nach all den antiken Bauwerken beinahe unwirklich, wie eine außerirdische Raumstation, anmutete. Ein blauer Turm ragte mit einer überdimensionalen goldenen Kugel an der Spitze hinter dem Gebäude in den Himmel und verstärkte den Eindruck.

Durch ein Rolltor fuhr der Wagen in die Tiefgarage und parkte an einem reservierten Platz neben einer Lifttüre.

EIN UNERWARTETES ANGEBOT

Mit einem kleinen Ruck stoppte der Lift in der obersten Etage. Geräuschlos öffnete sich die Türe und gab den Blick auf ein modern eingerichtetes ovales Foyer frei. Der Raum erstrahlte geschmackvoll in grau-weißen Tönen mit einer roten Wand als Farbakzent. In der Mitte wucherte eine Gruppe erstaunlich geschmackloser Büropflanzen unter einer Tageslichtlampe. Der Chauffeur steuerte auf eine imposante Bürotüre zu, klopfte zweimal und drückte, ohne eine Antwort abzuwarten, den linken Türflügel nach innen. Sogleich trat er zur Seite, um Severin den Vortritt zu lassen.

Der erste Blick fiel auf einen gegenüberliegenden dezenten Schreibtisch mit Glasplatte, Telefon und Computerbildschirm. Dahinter befand sich eine bodentiefe Glasfront, ein schwarzer Bürolehnstuhl verdeckte nur unwesentlich die grandiose Aussicht auf die Altstadt. Die rechte Wand des erstaunlich kleinen Büros, im Verhältnis zu der mächtigen Türe, war komplett mit einer dunklen Schrankwand ausgefüllt.

»Grüß Gott, Herr Hofer«, ertönte eine bekannte Stimme von links.

Severins Kopf ruckte herum, da der Sprecher durch den Türflügel verdeckt gewesen war. Erwin Maier stand lächelnd aus einem Sessel auf. Auf der anderen Seite des Tisches erhob sich ein weiterer Mann, der ihn mit Leichenbittermiene von oben bis unten musterte.

»Guido Morricone, ein Kollege aus der Provinz Firenze«, stellte Maier vor.

Da der Italiener keine Anstalten machte, ihm die Hand zu reichen, sah auch Severin keinerlei Veranlassung, den ersten Schritt zu tun. Leicht pikiert starrte er sein Gegenüber genauso eindringlich an, wie er abwertend taxiert wurde. Unverschämter Mensch. Werd mich doch nicht von ihm unterbuttern lassen. Was soll das?

Erwin Maier entspannte die Situation, indem er Severin jovial eine Hand auf den Rücken legte. Er geleitete ihn zu einem der acht Lehnstühle an einem Konferenztisch. »Bitte, nehmen Sie Platz. Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«

Seit wann ist der so freundlich? Beim letzten Treffen hab ich ihn als ziemlichen Kotzbrocken erlebt. Was für ein Chamäleon! … Zur Verteidigung muss ich eingestehen, die Ursache der Animositäten lag mehr in der Gestalt des Berggeists als bei mir. Der hat seine Stellung als Alpha-Tier bedroht. Gespannt wartete er, was als Nächstes kommen würde. Er war kaum eingeladen worden, um Smalltalk zu halten.

Höflich fragte der Chauffeur: »Werde ich noch gebraucht?«

»Nein danke, Florian. Im Moment nicht. Du weißt ja Bescheid«, antwortete der Chef des Österreichischen BKAs.

Die Art und Weise, wie er diese Bemerkung aussprach, ließ Severin aufhorchen.

Was wird hier gespielt? Das ist doch kein normales, distanziertes Angestelltenverhältnis.

Anstatt sofort zur Sache zu kommen, läutete Erwin Maier und bat die herbeieilende Sekretärin, Getränke zu servieren. Severin orderte eine Tasse Cappuccino und Mineralwasser und dachte dabei: Die Angelegenheit scheint wohl länger zu dauern oder unangenehm zu werden. Der Chef schleicht wie eine Katze um den heißen Brei herum.

Zur gleichen Meinung schien auch der griesgrämige Italiener zu kommen.

»Porca miseria! Ich-e möchte die wesentliche Sachen-en be-andeln.« Sein Deutsch ist durchaus verständlich und irgendwie hat er ja Recht. Ich hab allerdings keinen blassen Schimmer, um was es geht und was hintenrum abläuft.

Erwin Maier räusperte sich. »Guido, vielleicht erzählen Sie zunächst, worum es sich handelt.«

Ohne eine Miene zu verziehen, begann der Angesprochene den Bericht. »Allora. Dieses Jahr-e unsere Nachbar-Provincie aben-en eine brutta Plage erlebt-e. Die Ernte di Olive ist-e durch Fliegen-en ruiniert-e. Ebenso viel-e der Ernte di Vino ist-e verfault-e. Und-e enorme quantità di Tafani aben-e die Touristi vergrault-e.«

Auf Grund Severins verständnislosem Gesichtsausdruck erläuterte er: »Tafani sind-e picole graue, fliegende Insekten-e, die dolorosa jucksende Stiche-ne machen-en.«

»Mücken?«

»Ma no. So groß-e wie Fliegen-en.«

»Aha. Vermutlich Bremsen. Wir sagen auch Brem oder Brema dazu.« Herr Maier nickte.

Was hab ich damit zu tun? Solche Naturkatastrophen passieren doch immer mal wieder.

Als hätte Guido Morricone Severins Gedanken gelesen, fuhr er mit dem Bericht fort. »Diese-ne Vorfälle könnte man-e sehen als-e Laune der Natura, perché, der Sommer war-e ungewöhnlich viele Pioggia, äh, Regen-en.«

Severin nickte ganz spontan zu der Aussage und wollte sich entspannt zurücklehnen, als der Italiener mit einem kleinen Lächeln fortfuhr. Die Geste ließ ihn gleich sympathischer wirken.

»Das-e glaubten-en wir auch-e, bis unsere Studiosi die Insekten-en untersuchten. Das-e ist-e Routine, per heraus-e zu finden-en, wie sie meglio di tutti bekämpft-e werden können.«

Severin lehnte sich unbewusst vor, was ihm ein erneutes Grinsen einbrachte. Irritiert durch diese seltsame Reaktion auf seine Positionsänderung, dachte er: Warum lacht der immer, wenn ich mich beweg? Bin ich so leicht zu durchschaun?

»Bei den-e Tests wurde-ne una enorme Ammassamento, ecco Conzentrazione su Caesium-e-e cento trenta sette Isotope gemessen-en. Gibt es-e nicht-e in der Natura. Oltre tutto haben-en misura Frequenza un Resultato gemachte-ne mehr-e als-e hundert-e EHz, ist-e presuntivo von Radiografico, äh X-Ray.« Je heftiger sich Morricone in seine Rede hineinsteigerte, desto unverständlicher wurde der Sinn.

Die Atmosphäre im Raum wurde bleischwer und bei Severin erschienen tiefe Furchen in der Stirn.

Unvermittelt schleuderte er die Worte Severin ins Gesicht.»Kommt-e das-e Ihnen bekannt-e vor?«

Erschrocken antwortet dieser: »Ja … nein … also, wenn ich Ihre Rede richtig verstanden hab, meinten Sie: Bei den Tests wurde eine enorme Konzentration an Caesium 137-Isotopen festgestellt, welches nicht in der Natur vorkommt. Frequenz Messungen ergaben einen Wert von über 100 EHz, was auf den Einsatz von Röntgenstrahlung schließen lässt.« Als Guido Morricone grimmig nickte, fuhr Severin fort: »Ich hab keinen blassen Schimmer von der Sache. Ich kenn nur vage die Theorie aus dem Physikunterricht. Allerdings ist mir unklar, was das mit mir zu tun haben soll und was Sie von mir wollen.«

»Momento, dazu ich-e komm-e noch-e!«

Die Stimme klang, als wäre Severin allein Schuld an dem ganzen Unheil. Wiederum wurde er von dem Italiener mit starrem Blick abgetastet. Ein Verdacht stieg in ihm hoch. Ob der das absichtlich macht, um mich zu testen oder zu provozieren? Aber weshalb? Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete er auf eine Fortsetzung des Berichts.

»Sie wussten-en, dass-e ein Consorzio Internationale hat-e eine Filiale in Italia?«, schleuderte Morricone in den Raum.

Alarmiert zuckte Severin mit den Schultern. »Keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Warum-e gerade Sie, ed welche Parte spielen Sie in-e der Firma?« Vollkommen entgeistert starrte Severin den Sprecher an.

»Ist-e es nicht-e selt-e-sam-e, dass-e giustamente Sie sind-e in der Lage zu elfen?«, fuhr dieser fort.

Severins Blick wanderte zu Erwin Maier hinüber.

Was wird hier gespielt? Wollen die mir die Schuld an der Zerschlagung einer internationalen Bande in die Schuhe schieben, die Experimente unternimmt, um biologische Kriegswaffen herzustellen?

Wie eine Welle schwappte der Zorn in Severin hoch und er musste kräftig schlucken, um nicht zu explodieren. Diese Provokation verzeih ich ihm nie. Als ich herkam, ich hatte leise gehofft, jemandem helfen zu dürfen. Als Schuldiger hingestellt zu werden, ist eine absolute Frechheit.

Der BKA Chef sah in die Runde, als könnte er kein Wässerchen trüben.

Alle möglichen Gedanken schwirrten durch Severins Kopf. Hat der Maier verschwiegen, was tatsächlich geschehen ist? Warum hackt Morricone ausgerechnet auf mir rum? Wir sind doch nicht in Italien, wo er das Sagen hat, sondern in Österreich. Italienische Korruption soll ja weit verbreitet sein, wie man der Presse entnehmen kann. Ist er vielleicht ein Schmiergeldempfänger dieser Firma oder schlimmer noch – der Mafia?

Ein böser Verdacht stieg in ihm hoch. Ist die Tetrares. Inc ein Ableger der Camorra, Cosa Nostra beziehungsweise einem ähnlichen Clan?

»Hat Ihnen Herr Maier nicht berichtet, was vorgefallen ist«, wollte Severin mit eisiger Miene wissen.

»Die Geschichte-ne ist-e doch stupida. Ich-e glaub-e nessuna parola, äh, Worte.«

»Und was hat er erzählt?«, hakte Severin nach.

»Sie ‘ätten susammen-en mit amici geolfen, aufsudecken-en un laboratorio sotterraneo, unter-e-irdisch-e.«

Gleich einem aufgescheuchten Bremsenschwarm schwirrten die Gedanken durch Severins Kopf. Ich trau ihm kein Bisschen. Was soll ich sagen? Die Wahrheit glaubte mir anfangs nicht mal der Maier. Und überhaupt, wieso will er jetzt ›olle Kamellen aufwärmen‹?

»Was wird das?«, antwortete Severin erbost. »Ich wurde kaum hierher geholt, damit Sie mich wegen dieser alten Geschichte beschimpfen können.«

»Certamente«, bellte Morricone. »Ich-e wollte finden heraus-e, wie weit-e Sie sind-e verwickelt-e in unsere Angelegenheiten-en.«

Es hätte nicht viel gefehlt und Severin wäre in einen Lachkrampf ausgebrochen. »Bin ich hier bei versteckter Kamera?« Dem eisigen Blick des Gegenübers nach zu urteilen, lag er mit der Mutmaßung falsch.

In Severins Unterbewusstsein lauerte ein wichtiger Hinweis, wobei die Gedanken hektisch versuchten, ihn zu greifen. Irgendwas ist an den Aussagen unstimmig. Zuerst weiß er scheinbar genau Bescheid, was die Strahlung betrifft und was ich damit zu tun hab. Dann tut er so, als hätte er keine Ahnung, was in Österreich geschehen ist! Äußerst verdächtig.

Innerlich auf Hundertachtzig startete Severin einen Frontalangriff. »Vermutlich leugnen Sie, dass hier ein unterirdisches Labor existierte, in dem mutierte Kellerasseln gezüchtet wurden, oder? Und wenn doch, war es wahrscheinlich gar nicht die Firma Tetrares, sondern das Goethe-Institut oder der Vatikan.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Ohne ein weiteres Wort stand Guido Morricone auf, starrte  den Kollegen grimmig an und warf beim Hinausgehen die Zimmertüre hinter sich ins Schloss.