Slyrus -Die Gebirgsmonster-

Wichtel Prolog

Severin Hofer raste auf seinem weißen Motorroller in abenteuerlicher Fahrweise von Schliersee in Richtung Bayrischzell. Der Weg führte über Neuhaus an der Abzweigung zum Spitzing vorbei. Kein Einkehrschwung im Gasthof Mairhofer in Aurach heute.
Jeder Feriengast hätte den Anblick der reizvollen Gebirgslandschaft genossen. Severin allerdings musste seine volle Konzentration auf die Straße richten, die sich der Leitzach entlang durch das Tal schlängelte. Nur mit Mühe war er in der Lage zu sehen, wo er hinfuhr, denn vorne auf dem Lenker hopste ein Wichtel auf und ab. Mit einer Hand umklammerte dieser den Windabweiser, wobei sein struppiger, dunkelgrauer Bart wie eine Rauchfahne nach hinten wehte.
»Rechtsiger, linksiger, schnelleriger, mehra schnelleriger!«, rief er laut und fuchtelte bei jeder Anweisung wild mit einem Arm.
»Geht nicht«, schrie Severin zurück. »Das ist ja kein Rennauto. Wo fahrn wir überhaupt hin?«

Severin und der Bergwald-Wichtel

Severin Hofer schaute sich verschlafen um. Der Radiowecker zeigte 7 Uhr – Montag 09. August. Ein Blick aus dem Fenster ließ einen herrlich sonnigen Tag erahnen.
Frohgemut pfeifend verrichtet Severin die Morgentoilette. Er schlüpfte in ein frisches Hemd, zog die Hosen hoch und schnallte den Gürtel fest. Gerade wollte er zur Türe gehen, als ihn etwas am Hosenbein zupfte. Verwundert sah er nach unten.
Dort stand eine bekannte Gestalt – ein Wichtel, der ihm nur bis zu den Knien reichte. Bekleidet war er mit einer dunklen Sackhose, grünem Wams und weitem, ehemals weißem Hemd. Die verbeulten Schuhe wirkten übergroß, wie Lastkähne.
Das Gesicht war wettergegerbt, zerfurcht von unzähligen Falten. Es erinnerte Severin an einen getrockneten, braunen Boskop-Apfel. Die langen, grauen, strubbeligen Haare standen wild nach allen Seiten und der dunkelgraue Bart quoll über die Brust zum Bauch.
Händeringend zerknautschte der Wichtel seine schwarze, flache Lederkappe und trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Du musst uns ganz doll sofortigster schnelleriger verhelfen.«
»Ich bin grade gestern erst von meiner Visionenreise zurückkommen, ich kann jetzt unmöglich weg«, antwortete Severin leicht grantig. Die gute Laune von vorher bekam einen gehörigen Dämpfer. Am Morgen vor dem Kaffeetrinken mit ungewöhnlichen Aufgaben konfrontiert zu werden, und noch dazu im Befehlston, konnte er überhaupt nicht leiden. »Warum redst so ein komisches Kauderwelsch? Als wir uns das letzte Mal trafen, hast in Reimen geredet.«
Gekränkt verzog der kleine Mann das Gesicht. »Das ist sich normaler Spracher, kein Helferreim.« Dann fuhr er drängender fort: »Bitterschön! Es ist sich enorm eiliger und es geht sich für unseriges Volk ums Leben und ums Todsein.«
»Was ist los und warum ausgerechnet ich?«
»Na, du bist doch edliger Drachenverreiter und Freunderl vom Berggeist, nur du kannst uns verhelfen!«
Der Wichtel war Severin auf seiner letzten Reise begegnet. Da hatte er eine schwierige Aufgabe nur mit dessen Hilfe bewältigen können. Blöde Zwickmühle. Einerseits fühlte er eine Verpflichtung zu helfen, anderseits sollte er sich zuerst um seine Physiotherapiepraxis kümmern, die er ganze zwei Wochen nicht mehr betreten hatte. Die paar Tage Resturlaub, die er noch hatte, wollte er dem Wichtel keinesfalls auf die Nase binden.
Als wäre er ein Gedankenleser, antwortete die kleine Gestalt: »Du hastiger noch drei Sonnenumläufe freier Mann.«
»Woher weißt du, dass ich bis Mittwoch Urlaub eingetragen hab?«, fragte Severin erstaunt.
»Um dero Praxiskneterei brauchst du dir keine Sorgerei zu machen, die sich gut geht. Ich hab scho meine Verwandtschafterei, de Heinzel-Wichtlerei befehligt, sich kümmerigen sachlich drum.«
»Und was bist du für einer?«
»Ich binerig ein Bergwald-Wichtl.« Dabei reckte der kleine Mann stolz seine Brust heraus.
»Und wo brennt’s, da’s gar so eilig ist?«, wollte Severin wissen.
»Bei unserm Wald tauchen sich seit einem Mondverlauf unheimlige Viecherige auf, die jeden von uns verfressen, wenns ’n derwischen.«
»Was heißt unheimlich, wie sehn sie aus?«
»Sie habn sich a länglich Form mit am platt schuppeligen Panzer, Unmenge von Beinern, vorn kurze Greifer-Zangern mit furchterbar unheimlichvollen, roten knopfigen Glupschern. Mir frostelts kalt an Buckel runter, wann ich nur dran denkern tu.«
»Und wie groß sind’s?«, wollte Severin wissen, um ein besseres Bild von der Sachlage zu erhalten.
»Halberig so hoch wie mira und so lang wiera schwanzloses Wiesel-Tier.«
»Das klingt tatsächlich sehr seltsam.«
Severin zweifelte stark, ob er mitgehen sollte. Ein Teil von ihm hatte die Nase von Abenteuerreisen gestrichen voll, hatte er doch beim letzten Mal mehr erlebt, als ihm lieb gewesen war. Die Beschreibung der Monsterwesen trug keineswegs bei, eine nähere Bekanntschaft mit ihnen machen zu wollen. Und möglicherweise schon wieder in Lebensgefahr zu geraten, erschien alles andere als verlockend.
Andererseits, die Gelegenheit, ein Wichtelvolk zu treffen und dessen Lebensweise kennen zu lernen, kam nicht jeden Tag vor und reizte ihn sehr.
Severin überlegte, was er für eine solche Unternehmung wohl brauchen würde.
»Soll er sich nicht so endlos den Kopf grublern. Soll er sich losrattern tun.«
»Nur langsam, mein Freund, ein paar Minuten hin und her machen doch kein großer Unterschied. Und wie kommen wir hin? Zu Fuß, mit’m Auto oder Fahrrad? Wie lange bleiben wir weg? Du siehst, ich hab noch einige Punkte zu klären.«
»Immer diese Menscherwesen! Alles komplizierlich tun müssen!«
Ohne auf das Gezeter des Wichtels einzugehen, schrieb Severin einen Zettel für seine Frau Elisabeth. Er wäre in einer wichtigen ›berggeistigen‹ Mission unterwegs und sie möge bitte in der Praxis Bescheid geben. Sie lebten zwar getrennt, waren aber nach wie vor gute Freunde und Vertraute. Sie wusste von der Begegnung mit dem Berggeist und von der Visionenreise. Alles Weitere hatte er aus Zeitmangel noch nicht berichten können.
»Fahren tun wir mit Stinkerrad, Wege sind waldiger«, befahl der Wichtel und konnte nur mit Mühe seine Ungeduld dämpfen. So hopste er auf der Stelle auf und ab und fuchtelte mit den Armen umher.
»Gib endlich a Ruh, sonst kannst allein heimgehn«, meinte Severin entnervt. »Wenn wir mit’m Roller fahrn, muss ich noch was anderes anziehn. Schleich dich und wart draußen! Woher weißt du überhaupt, dass ich ein Motorrad hab?« Ein argwöhnischer Blick ruhte auf dem Wichtel, der keine Antwort gab und ein beleidigtes Gesicht zog.
Severin zog einen kleinen Rucksack aus der Abstellkammer und füllte ihn mit dem Nötigsten. Ein Regencape, ein handlanges Schnappmesser, das normalerweise in der kurzen Lederhose steckte, Taschenlampe und ein paar Müsliriegel, sowie eine Flasche Mineralwasser. Verbandmaterial und verschiedene Utensilien, die er zum Bergsteigen mitnahm, ruhten bereits in den Tiefen der Tasche.
Sodann schlüpfte er in die Motorradkombination. Lederkleidung mochte ja einen gewissen Schutz gegen Verletzung darstellen. Ob auch bei Monsterbissen, war allerdings fraglich. Zuletzt zwängte er sich in feste Bergschuhe und öffnete die Haustüre.

Draußen saß der Wichtel, den Kopf in die Hände gestützt, und sah bemitleidenswert niedergeschlagen aus.
»Komm schon, lass d’Lätschn nicht hängen. Ich helf euch ja, sofern ich kann.«
Severin bugsierte den Motorroller aus der Garage und holte den Helm aus dem Top-Case. Er war stolz auf seine relativ neue Maschine. Es war ein spritziger Honda Roller SH300i, der trotz Severins Gewichts ein ordentliches Tempo vorlegen konnte. Das war nötig, denn er gehörte keinesfalls zu den spindeldürren Zwetschenmännchen, selbst nach dem Verlust von zwanzig Kilogramm auf der letzten Reise.
Bevor er startete, wollte er noch wissen, ob der kleine Mann einen Namen hatte. Er fand es unpassend, ›He du‹ schreien zu müssen.
»Mein Namerich ist sich Bertelnuss.« Hierbei machte er eine tiefe Verbeugung, wobei er den Arm elegant im Halbkreis schwenkte.
Klingt ja wie Betelnüsse. Hat er zu viel davon gekaut und platzt vor überschüssiger Energie? Bei diesem Gedanken überzog ein spitzbübisches Grinsen Severins Gesicht. Der Wichtel sah ihn misstrauisch an, stellte jedoch keine Frage.
Severin startete den Motor und klappte das Visier herunter. Bertl, wie er ihn nennen würde, hopste mühelos auf das Trittbrett. In Sekundenschnelle kletterte er auf den Lenker. Er umklammerte die Kante des Windschilds und stand dort wie eine Galionsfigur auf einem Großsegler.
»Loserig«, rief er, wobei er wie ein Kommandant den Arm nach vorne schwenkte.

Die Fahrt führte um den Schliersee herum in Richtung Bayrischzell. Als sie in Neuhaus den Ortsbereich verließen, vermutete Severin, ihr Ziel könnte im Spitzing Gebiet liegen, wo er Bertl das erste Mal getroffen hatte. Aber weit gefehlt. Der Wichtel sprang wie ein Irrsinniger auf dem Lenker auf und ab und schrie aus Leibeskräften: »Geradausiger, schnelleriger, mehra schnelleriger.« Als ein Auto vor ihnen herfuhr, plärrte er: »Überhol, mehra schnelleriger«, und fuchtelte hektisch mit den Armen.
»Wie denn?«, rief Severin entnervt zurück. Ein Roller ist kein Rennwagen und siehst’d nicht den Gegenverkehr?« Wer im Bergwald lebt, hat wohl keinerlei Ahnung von Verkehrsregeln. »Hör auf rumzuhopsen, ich seh kaum was.« Dieser Hinweis wurde jedoch im wahrsten Sinne des Wortes vom Winde verweht.
Die Straße führte durch Aurach am Gasthof Mairhofer vorbei. Hier ein Frühstück zu sich zu nehmen, wäre eine feine Sache gewesen. Aber der Wichtel dirigierte ihn unerbittlich Richtung Bayrischzell.
Als Severin den Parkplatz der Wendelsteinbahn erreichte, fuhr er links hinein und blieb stehen.
»Jetzt reicht’s! Ich fahr keinen Meter weiter.«
»Was ist sich los?«, wollte Bertl mit einem so verdutzten Gesichtsausdruck wissen, dass Severin um ein Haar das Lachen ausgekommen wäre.
»Ich kann so nicht lenken! Du versperrst mir die Sicht. Mag ja sein, du bist für andere Leute unsichtbar, nur ich seh die Straße nimmer. Und dein Gehopse macht mich wahnsinnig!«
»Was sollerich tun?«
»Entweder durchsichtig machen, lieber wär mir allerdings, du stellst dich hinten auf den Sitz. Benutz den Rucksack zum Festhalten und tipp mir auf die Schulter oder brüll mir ins Ohr.«
Ab diesem Zeitpunkt wurde die Fahrt entspannter und Severin hatte Zeit, in Erinnerungen zu schwelgen.

Nur gut zu singen, wird nichts bringen.
Bittend musst du Einlass begehren,
dich herzlich danach verzehren.
Des Wichtels Rat setze um in die Tat.

So hatte Bertls Ratschlag geklungen, als Severin ratlos vor einer Felswand gestanden hatte.
Ich weiß noch, wie ich verzweifelt versucht hab, dort ein Tor zu öffnen, das mich zu den Traumreisen führen sollt. Nun stand eben dieser Wichtelmann hinter ihm auf dem Motorroller und dirigierte ihn zu einem unbekannten Ziel. Irgendwie surreal diese Situation.
Ein Klopfen auf der rechten Schulter riss ihn aus dem Rückblick.
»Rechtsiger fahren!«
Das Ortsende von Bayrischzell war erreicht und Bertl wollte offenkundig in Richtung Landl nach Österreich reisen, nicht, wie Severin anhand der Fahrroute vermutete, zum Tatzelwurm. Gehorsam legte er den Roller in die Kurve und folgte der gewundenen Straße des engen Tals.
Wieder schweifte er in Erinnerungen ab. Es war so viel passiert im letzten halben Jahr. Angefangen hatte die Geschichte, als er vom Freund Buale auf das Bild des Berggeists an der Hagenbergwand am Spitzing bei Schliersee hingewiesen worden war. Anfang März hatte es nochmals geschneit gehabt. Durch die Konturen der Schneedecke war mit Phantasie tatsächlich ein Kopf zu sehen gewesen.
Jedes Mal beim Vorbeigehen musst ich fast zwanghaft dort hinschaun. Das Hinstarren hat glattwegs die Phantasiegestalt lebendig werden lassn. Zu allem Überfluss hat er mich wüst beschimpft, keine Ahnung von meinen schöpferischen Fähigkeiten zu habn. Erneut unterbrach ein Klopfen auf der Schulter seine Gedanken. Er sah sich um und bemerkte das Ortsende von Landl.
»Da vorn musst rechtsiger fahren.«
Das Straßenschild wies in Richtung Riedenberg.
Dem Berggeist hab ich den Namen Slyrus gegebn. Draufhin hat er mir drei Lernaufgaben verpasst. Als er endlich mit meinen Leistungen zufrieden war, befahl er mir, eine Visionenreise im Gebirge anzutreten. Ich durft erst zurückkommen, nachdem ich das ›Wahre Ich‹ gefunden hatte.
Im Berg war Severin auf vier Tierhelfer gestoßen: auf Kadmar den Bären, Gryson den Wolf, die Maus Clyfar, den Pelikan Adar und zuletzt noch auf Mingling, den Drachen der Verwandlung. Auf diesem war er zu verschiedenen Abenteuern geflogen, die seine Entwicklung gefördert hatten.
Gerade diesen Sonntag war Severin von der Expedition zurückgekehrt.
Erneut wurden die Gedanken unterbrochen. Ein Sperrschild stoppte die Weiterfahrt: Forststraße, Durchfahrt untersagt.
»Das ist eine gesperrte Straße, da darf ich nicht hinein.«
»Malefiziger Widersprecher«, schimpfte die kleine Gestalt. »Mir ist nixig verboten.«
»Wenn du meinst. Dann sorg dafür, dass ich keine Schwierigkeiten bekomm, sonst kannst was erleben!«
Severin lenkte den Roller vorsichtig von der Asphaltstraße auf den unbefestigten Weg. Die Zeit für müßige Gedankengänge war vorbei. Schlingernd rutschte das Zweirad zwischen den tiefen Fahrrinnen und dem Buckel in der Mitte hin und her. In den Waldstücken schlittern die Reifen gefährlich über Nadeln und Wurzeln. Er streckte die Beine seitlich ab, um einen etwaigen Sturz abfangen zu können. Der Schweiß lief ihm in Bächen den Rücken hinab, da bei dem Tempo der kühlende Fahrtwind fehlte.
Mein Hondale ist alles andere als ein Traktor. Severin bereute nach einer halben Stunde, diesen Weg genommen zu haben. »Gibt’s keinen besseren Weg zu euch?«
»Gibt sich schon, ist sich aber weiteriger.«
»Malefiziger Wichtl«, schimpfte Severin in dessen Worten. »So langsam, wie wir hier fahren können, brauchn wir garantiert länger.«
Stinksauer zuckelte er im Schneckentempo dahin, bis die Straße endlich angenehmer befahrbar wurde. Einem Wegweiser für Wanderer nach befanden sie sich kurz vor dem Kaiserhaus an der Kaiserklamm.
Auf einem Parkplatz stellte Severin den Motor ab und zog den Helm ab. »Ich geh jetzt hier was essen und trinken. Ich möcht keine Widerrede hörn!«
Severin betrat den Wirtshausgarten und wurde von einem Kinderspielplatz überrumpelt. Der toppte beinahe die neue Spielelandschaft am Kurpark in Schliersee, die ein einflussreicher Mitbürger gespendet hatte. Definitiv nahm das Spieleareal im Kaiserhausgarten mehr Platz als der Wirtsgarten ein.
Mit einem erleichterten Seufzer setzte sich Severin an einen Gartentisch mit gelbkarierter Tischdecke. Darauf stand ein überflüssiger Blumentopf, dekoriert von einem Aschenbecher und einem Pfeffer-Salz-Streuer-Ensemble. Überdeckt wurden die Sitzmöglichkeiten von großen, quadratischen, weißen Sonnenschirmen mit Werbung für Erdinger Weißbier. Erstaunlich. Wird Tirol auf’m Bierweg überrollt. Das Ambiente schaut sehr tourimäßig aus. Als ich das letzte Mal vor zwei Jahren hier war, sah’s viel uriger aus. Nicht so aufgschwanzt.
»Bitte eine Radlerhalbe und eine Speckplatte«, bestellte Severin bei der herbeieilenden Kellnerin.
Nach dem ersten Schluck streckte er genüsslich die steifen Beine aus. Kurz darauf erschien eine üppige Jausenplatte. Severin rieb sich begeistert die Hände und schmierte dick Butter auf die Brotscheibe, belegte sie großzügig mit dem Tiroler Speck und biss genussvoll in das deftige Schinkenbrot. Während er das Brot kaute, verschwand wie von Zauberhand eine Schwarzbrot- und Speckscheibe nach der anderen im Nirgendwo. Auch der Bierkrug leerte sich verdächtig schnell.
»Du hascht ja an ordentlichen Appetit«, meinte die Bedienung, als er eine zweite Platte und noch ein Getränk bestellte.
»Nicht nur ich«, lachte Severin spitzbübisch.

Nachdem alle Krümel, jedes Fitzelchen Fleisch und der letzte Tropfen Gerstensaft verspeist waren, konnte die Reise weitergehen. Nun sah die Welt, mitsamt ungeduldigem Wichtel, schon rosiger aus.
»Wohin soll’s gehen?«, fragte Severin seinen noch unsichtbaren Begleiter nach dem Starten des Motorrads.
»Linksig hinabig«, bekam er zur Antwort, verbunden mit einem unverschämt lauten Rülpser.
Zwei Spaziergänger drehten sich um und starrten missbilligend zu ihm herüber. Vor Lachen konnte Severin kaum die Maschine gerade halten.
Mit einem breiten Grinsen fuhr er links den Berg hinunter. Bin gespannt, wo er mich jetzt hinleitet. Ich vermutete eigentlich, er will zur Kaiserklamm. Die sieht sehr wichtelmäßig verwunschen aus.

Im Reich der Wichtel

Nach dreihundert Metern tippte ihm Bertl wieder auf die Schulter. »Da vorn musst rechtsiger fahren.«
An der angegebenen Stelle bremste Severin auf Schritttempo herunter, so eng war die Kurve, die beinahe im spitzen Winkel vom Hauptweg abging. Auf einem verblichenen grauen Holzschild konnte er mit Mühe Steinberg/Rofan entziffern.
Noch kamen sie gut auf dem geteerten Weg voran. Kaum passierten sie jedoch das letzte Haus, da endete die Straße an einem gesperrten Forstweg mit einer Schranke. Rechts und links war kein Durchkommen für ein Fahrzeug, nicht einmal für einen Motorroller. Für Fußgänger gab es einen Zauntritt zum Drüberkraxeln. Vermutlich, um Kühe drin oder draußen zu halten.
Der Wichtel sprang mit einem Satz vom Roller und eilte zum Schlagbaum.
Bin gespannt, wie er das aufkriegt.
Bertl ruckte zweimal am Vorhängeschloss, dann griff er in die Hosentasche, zog einen Gegenstand heraus und fummelte an der Sperrvorrichtung herum. Severin hätte zu gern gesehen, was dieser in der Hand hielt. Jedenfalls funktionierte es, denn Bertl öffnete das Schloss und hob die Schranke hoch. Sorgfältig ließ der kleine Mann den Bügel nach dem Durchfahren wieder zuschnappen.
Irgendwie habe ich mir das magischer vorgestellt, dachte Severin enttäuscht, aber weit unangenehmer war das Gefühl, eingesperrt zu sein.
Die Fahrt ging auf der ausgewaschenen, glitschigen Passstraße sehr langsam voran. Dieser Teil der Strecke war ähnlich schlecht befahrbar wie der Abschnitt vor dem Kaiserhaus.
Nach ein paar Kurven erreichten sie eine Ausweichstelle an einer Felswand. Erneut ein Klopfen auf der Schulter: »Hier musst dich verstoppen.«
Erstaunt blieb Severin stehen. Was wollen wir mitten im Nirgendwo? Er sah nur eine nackte Bergwand hinter dem halbrunden Platz, umrahmt von zerzaust aussehenden Bäumen, die wie mahnende Finger in den Himmel ragten. Den Boden bedeckten zahlreiche heruntergefallene Steinbrocken. Ein grauer, unheimlicher Ort, der nicht zum Verweilen einlud.
Der Wichtel sprang vom Beifahrersitz und ging auf die Felswand zu. Er legte die Hand an eine bestimmte Stelle und gab einen, für Severin unverständlichen, Wortschwall von sich.
Ohne Geräusch gab der Fels eine Einfahrt frei, groß genug für einen Lastwagen. Toll, beinahe wie bei meiner Traumreise.
Aufgeregt gab ihm der Wichtel ein Zeichen, schnell hineinzufahren.
Ob das wohl eine ehemalige Bunkeranlage aus dem 2. Weltkrieg ist?, geisterte es durch Severins Kopf, während er das Motorrad in die Öffnung hinein steuerte. Auf Bertls Geheiß stellte er es rechts am Rand ab. Das Tor schloss sich geräuschlos.
Schon wieder eingesperrt. Nach zahlreichen schlechten Erfahrungen der letzten Traumreise fühlte Severin jedes Mal einen Stich, wenn er keine Fluchtmöglichkeit sah.
Der Wichtel winkte ihm ungeduldig zu folgen und eilte im breiten Tunnel voran. Das Mauerwerk war gleichmäßig mit feinen Rillen bedeckt. Im Abstand von zehn Metern steckte jeweils eine brennende Fackel in einer eisernen Halterung und tauchte den Gang in ein gespenstisch flackerndes Licht. Dadurch hatte Severin den Eindruck, Gespenster die Wände entlang huschen zu sehen. Fröstelnd zog er seine Lederjacke enger um den Körper.
Von fern hörten sie ein vielstimmiges, leises Tick-Tick, welches lauter wurde, je weiter sie im Gang vordrangen.
»Weißt du, was das für ein Geräusch ist?«
»Das ist sich Hämmern von Steinhugger Zwergern.«
»Du meinst, es arbeiten Zwerge im Berg, keine Wichtl?«
»Jessas na, Wichtl lebern sich im Wald.«
»Und was machen sie?« Bertl zuckte mit den Schultern. Ganz zufrieden war Severin mit den Informationen nicht. »Ich dachte, es geht um Wichtel? Was wollen wir hier innen im Bergmassiv?«
Aber der kleine Mann verweigerte weitere Auskünfte und eilte den Gang entlang, bis sie vor einem anderen eisernen Tor anlangten.
»Was willst du, Wicht?« ertönte eine barsche Stimme. Unvermittelt stand eine geharnischte Gestalt mit einem bedrohlich wirkenden Hammer vor ihnen, dessen Stiel halb so lang wie sein Träger war.
Völlig ungerührt erwiderte Bertl. »Aronbart! Kennt er sich mich doch. Wir uns verbrauchen Audienz.«
»Und der da?«, fragte der Zwerg drohend und hob das Eisenteil hoch, als sei es eine Feder.
Der Wichtel hob abwehrend die Hände. »Ist sich edler Drachenverreiter und Freunderl vom Berggeist. Soll uns verhelfen.«
Widerwillig ging der Wächter zur linken Seite des Tores.
Severin bestaunte die kunstvolle Schmiedearbeit, diagonal verlaufende Bänder verziert mit Nieten, Rauten und Ornamenten. Spitze Dornen schreckten vor näherer Berührung ab. Wie er bemerkte, fehlten Handgriffe und ein Schloss zum Öffnen des Portals. Gut gesichert. Was erwartet uns wohl dahinter.
Der Wächter hantierte, vom Rücken verdeckt, an einer Stelle des eisenbeschlagenen Tores. Ein verborgener Mechanismus klackte laut und deutlich. Kurz darauf hörte man Schleifgeräusche von Riegeln, die in der Türe knackten. Nach einem dröhnenden Schnappen öffnete sich der Eingang wie von Geisterhand. Er gab den Blick auf einen gewaltigen, kreisrunden Saal mit einer kuppelartigen Decke frei, die den Raum überspannte. Unterbrochen wurde die Rundung durch eine halbrunde Einbuchtung. Das ist ja fast so groß wie’s Hauptschiff der Sixtuskirche in Schliersee mit der Apsis am Ende. Und das ohne jeden Stützpfeiler. Tolle Architektur.
Die Felswände waren ringsum bedeckt von meisterhaft gefertigten Steinreliefs, die Geschichten aus dem Zwergenleben erzählten. Severin sah Einhörner, Drachen, gewaltige Vögel und schaurige Fabelwesen.
Rings um den Saal standen durchgehend hellgraue, steinerne Bänke auf dem glattpolierten Granitfußboden. Dazwischen, auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangstüre, in das Halbrund eingebettet, erhob sich auf einem Podest ein schlichter viereckiger Sessel mit hoher Lehne. Wie es aussah, war er aus einem ganzen Block weiß-grau gesprenkelten Marmors gehauen worden. Severin bewunderte die Eleganz in der Schlichtheit, die auf ein großes handwerkliches Geschick und ästhetischen Geschmack hindeutete. Auf ihm thronte majestätisch ein Zwerg mit einer schmalen, eisernen Krone, verziert mit geschliffenen Edelsteinen. Er saß stolz und hoch aufgerichtet, wobei die Hände auf den seitlichen Armlehnen ruhten.
Der König wirkt hier drinnen fast verloren und geht in der steinernen Pracht unter. Da ändert auch der noch so imposant wirkende rote Samtumhang nichts. Die schwarze Kniebundhose mit den weißen Strümpfen, sowie das goldbestickte Wams können keinesfalls mit der Eleganz und Wucht des Saals mithalten.
Im Zentrum des Raumes sah er eine kunstvoll eingelassene Rosette, von der sternförmig vier lange und ebenso viele kürzere Strahlen abgingen. Könnten die Himmelsrichtungen darstellen. Sie erinnern mich an das Bild einer antiken Windrose.
Unter der argwöhnischen Bewachung Aronbarts ging Bertl auf die Mitte zu und betrat den Kreis. Severin tat es ihm, in knappem Abstand dahinter, gleich.
Wir stehen hier wie bei einer Casting Show vor der Jury. Der Gedanken verwunderte ihn, er kannte jedoch das Phänomen zu Genüge. Bei jeder beunruhigenden Situation rissen ihn skurrile Gedankengänge aus dem Unbehagen.
Eine höfliche Verbeugung leitete den Empfang ein. »Untertänigst vergrüßt, majestätischer Laurinbart. Ich binerig da, um zu bitten Hilfer von den Steinhuggern. Ein miserablichtes Unheil verbreitert sich bei uns. Und ihro Volker seid auch tangierterigt.«
»Ja, ich weiß, komm zur Sache«, unterbrach ihn die Hoheit barsch.
Prost Mahlzeit, was für ein Einstieg. Zwischen Zwergen und Wichteln herrscht scheinbar alles andere als dicke Freundschaft, dachte Severin und eine steile Stirnfalte erschien über seiner Nase. Ich hab keine Ahnung, worauf Bertl hinaus will.
Unbeeindruckt fuhr dieser fort: »Die unheimlichen, fresserigen Viecherige tauchen bis dato nur im bergigen Wald auf. Unseriger König Corylius hat sich mich verschickt, Hilfer zu holen beim Drachenverreiter und Freunderl vom Berggeist. Denn nur er kann uns verhelfen.«
»Und was hab ich damit zu tun?« Laurinbarts Stimme klang drohend. Severin spürte, wie der Wächter bereits den Hammer anhob.
»Wenn die Viecherigen sie derwischen, verfressen sie auch Zwergern.«
Eine gefühlte Ewigkeit saß der Monarch regungslos da.
Die Haltung konnte den Wichtel nicht einschüchtern und er fuhr nach einer Weile fort: »Alle Leberwesen im Wald sollen zusammenhalten und sich gegeneinander unterstützerigen. Das ist sich die Botschaft von unsrigem König Corylius.«
»Und was ist mit dem da?«, wollte der Zwergenkönig mit einem herrischen Blick auf Severin wissen.
»Wir von die Wichtl Volker bitten ihn Geheimgänge benützen lassen und ihm Hilfer zu vergeben bei Suche wegen Ursache und Beseitigung von Gefährlichkeit.«
»Gut«, meinte der Zwergenkönig nach einer weiteren endlos erscheinenden Dauer. »Senator Bertelnuss, richte deinem König aus, wir vom Stamm der Steinhugger werden euch Unterstützung zusagen.«
Ein Regierungsmitglied! Jetzt ist mir klar, warum er so dominant auftritt. Ist scheinbar eine allgemeine Angewohnheit von Politikern. Der Wichtel stieg in Severins Achtungsskala, aber rumkommandieren durfte ihn auch ein hoher Beamter nicht.
Mit einer kurzen Verbeugung nahm Senator Bertelnuss vom Zwergenkönig Abschied, der in Gedanken versunken auf seinem Thron verharrte.

Als sie den langen Gang zurückmarschierten, fand Severin endlich Zeit, mehr Informationen aus Bertl herauszulocken. »Mir scheint, zwischen Wichteln und Zwergen herrscht keine enge Freundschaft, warum eigentlich?«
»Ist sich einfach. Zwerger wollen alles veränderigen. Immerzu Hämmern und Gestaltigen. Wir sind Hüter, Bewahrer und Heiler von Natur und Viechern. Auch Wildnis ist sich schön. Muss man sich nicht verschnittern und verschnipseln.«
Da gibt’s gewisse Parallelen zur Menschen-Welt.

Aus Severins Sicht besaßen beide Varianten ihre eigenen Reize.