Slyrus -Der Berggeist-

Prolog

Der Berggeist stand riesengroß und drohend vor Severin und funkelte ihn mit bösen Augen an.
»Warum hast du mich gerufen?«, donnerte er laut.
Die Worte fegten über Severin hinweg und jede Nervenfaser des Körpers zog sich schmerzhaft unter der Wucht des Gebrülls zusammen. Zu gern hätte er mit den Händen die Ohren zugehalten. Er stand stattdessen da wie gelähmt, unfähig, die klitzekleinste Bewegung zu machen.
»Ich hab dich gar nicht gerufen«, antwortete er verwirrt, eingeschüchtert und ein wenig verärgert, er war sich keinerlei Schuld bewusst.
»Du Narr!«

Severin und der Berggeist

Die Geschichte begann ganz harmlos im Frühjahr.
»Siehst’n?«, fragte der Buale und deutete auf die Bergflanke der Hagenbergwand im Spitzing Gebiet bei Schliersee. »Da drüben rechts, so hundert Meter unter der Kammlinie ist er.«
»Wer, wo, was?« Es dauerte einen Moment, bis die Worte bei Severin Hofer ankamen. Die frische, warme Leberkäs-Semmel, die er gerade genüsslich verspeiste, verlangte die uneingeschränkte kulinarische Beachtung.
»Da, der Berggeist!«
Wollte Buale ihn auf den Arm nehmen wie so oft? Er kannte den eigenwilligen Humor seines Freundes und Nachbarn zur Genüge.
»Da schaug hi!« Buale zeigte mit dem Finger auf die Bergwand.
Überall im Land hielt jetzt, Anfang März, der Frühling Einzug. In den Bergen war der Schnee der letzten Nacht jedoch liegen geblieben. Durch die Konturen der Schneedecke wurde tatsächlich ein Kopf sichtbar.
»Da droben stehn die schwarzn Haar senkrecht in d’Höh und unten hat er an weißn Nikolaus-Bart. Siehst die Ohrn, die schaun aus wie die von am Elf. Dann hat er no a breite Nasn und an kleinen Mund. Die Augen san zu, wie wenn er an Winterschlaf haltn würd. Und schaug nur des Lächeln an. Freundlich – gell? Bin sicher, er träumt grad was Schöns!« Erwartungsvoll schmunzelnd sah er zu Severin herüber.
»Hast recht, des Gesicht seh ich auch, aber a bissel anders. Er hat ziemlich schräge Brauen und für an Nikolaus-Bart fehlt mir der Schnurrbart. Ich seh nur dicke Backen und d’Nasn sieht aus wie die vom Paul Breitner.«
Buale lachte schallend. »Ja stimmt, der Zinken hat a gwisse Ähnlichkeit.«
»Was mich am meisten stört, sind die Augen. Die schaun klein, bös und funkelnd aus, mit aufgschwemmte Tränensäck unten dran und an richtig gemein, verkniffenen Mund. Wie wenn er sauer wär, dass’n jemand gsehn hat oder er da droben auf’m Berg einklemmt ist und ned runterkommen kann.«
»Warum bist so ghässig?«, wunderte sich sein Freund.
»Wahrscheinlich alte Gschichten«, wehrte Severin ab. Er besaß eine ausgeprägte Phantasie in Bezug auf Geister- und Spukgeschichten, die ihm schon seit jeher Gänsehaut verursachten. Daran änderte auch der niedliche Casper nichts. Der Grundstein für die mulmige Empfindung, was Rübezahl, Hexen, Trolle oder Zwerge betraf, war bereits in der Kindheit gelegt worden. Die Großmutter hatte mit unermüdlicher und wahrer Begeisterung jedes Märchen aus ihrer umfangreichen Sammlung vorgelesen. Das ›komische Gefühl‹ hatte auf den verschlungenen Pfaden den Weg in seine Eingeweide gefunden. Dort verknotete es sich bei passender und unpassender Gelegenheit zu einem dicken Klumpen.
Als Kind war er spielend in der Lage gewesen, ein Gesicht in einer Wolke oder in einer Zeichnung zu finden. Am Gang hatte ein Kleiderschrank mit einer Maserung gestanden, die ihm wie ein unheimlicher Pferdekopf vorgekommen war. Er erinnerte sich genau, wie ihn die Augen so lange verfolgt hatten, bis er um die Ecke gebogen war. Ich kann mich auch an einen Fleck auf der Tapete erinnern, der wie ein huschendes Gespenst aussah, wenn’s Scheinwerferlicht vorbeifahrender Autos drüberstreifte. Severin lachte innerlich. Und dann konnte ich vor Angst nicht mehr schlafen und bin zur Oma ins Bett gekrochen.
Entdeckte er ein Phantasiegebilde, brannte sich das Bild auf die Festplatte seiner Erinnerung ein. Da half kein Drücken der Delete-Taste wie beim PC. Die Eindrücke konnten ihn auf Jahre verfolgen, bevor sie im Papierkorb verschwanden. Diese Fähigkeit war lange Zeit verschüttet gewesen, bis zum heutigen Tag, als er das Gesicht des Geistes am Berg erkannte.
»Saublöd, jetzt muss ich immer hinschaun, wenn ich in die Richtung geh«, maulte Severin leise. Seine Phantasie erfüllte ihn durchaus mit Stolz, was er allerdings für sich behielt, um dem Spott der Freunde zu entgehen. »Na ja, was soll’s, damit kann ich leben.« Aber eine kleine Unsicherheit blieb, als er sich das murmeln hörte.

Seine Physiotherapie-Praxis lag fünf Gehminuten von der Wohnung entfernt. Wie vermutet wurde auf jedem Hin- und Rückweg der Blick unwillkürlich zur Bergwand gezogen, auf der er das Gesicht suchte. Es waren vier Tage vergangen, seit Severin den Berggeist das erste Mal gesehen hatte.
Am Montag, gegen halb acht Uhr abends, traf er im Hausflur Jean Pierre. Sein Nachbar kam ebenfalls von der Arbeit nach Hause und wollte hinauf in die Mansardenwohnung gehen.
»Grüß dich. Hast schon frei?«, fragte Severin neugierig.
»Salue! ‚eut is nix los im Restaurant, das kann machn mon Sou-Chef«, antwortete JP in seinem lustig klingenden bairisch-französischen Kauderwelsch.
Jean Pierre Rucourier wurde schlicht JP genannt. Er entstammte einer elsässischen Winzerfamilie, die in der Nähe von Colmar lebte. Ihn hatte es vor Jahren der Liebe wegen nach Bayern verschlagen. Aber wie so oft: Der Wohnort blieb, l´amour verschwand. Mittlerweile verdiente er sein Brot als Küchenmeister in einem bekannten Restaurant im Leitzach Tal.
»Allez, lass uns miteinander kochen.«
»Hast noch nicht genug, nach einem ganzen Tag am Herd?«
»Nie«, meinte JP, »isch ‚ab ein bärig neues Rezept, kannst ‚elfen.«
»Klar – mach ich doch immer gern. Wenn’s was Gscheits zum Futtern gibt, bin ich jederzeit dabei.«
Und so machten sie sich gemeinsam ans Werk. Severin schälte Karotten und weinte beim Zwiebelschälen wie ein Schlosshund. Währenddessen erzählte JP über die ausgefallensten Schmankerln, aber auch von etwas so ›Banalem‹ wie die beste Zubereitung eines Schweinebratens.(1) »Dazu musst kosten einen superb roten Italiener, wie La Stoppa, der läuft runter wie Öl.«
Dass Severin meinte, er bevorzuge Bier zum Schwein, wurde überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Typisch Franzose – Pardon Elsässer! Reiten immer auf Wein rum. Derweil ist unser Bier so süffig.
Ungerührt erzählte Jean Pierre weiter. »Und als Aperitif einen Vin d’Alsace. Alors, man muss nämlisch die Zeit überbrücken, bis das Menue is fertisch. Apropos, ‚ast du zwei Flaschen Vin Blanc?«
»Ja, klar, warum?«, wollte Severin wissen.
JP dozierte mit erhobener Stimme und einem schelmischen Grinsen: »Zwei Flaschen sind ein Muss für ein lecker Gerischt. Eine Bouteille nehm isch zum Kochen und die andere trinken wir jetzt. Après, zum ‚auptgang, wir brauchen noch ein gutn Rotwein. Geh runter und ‚ol die Sachen.«

Genüsslich klopfte sich Severin nach der Schmauserei auf den prallen Bauch. Der war, im Gegensatz zu den Haaren, im Lauf der Jahre ordentlich gewachsen. JPs Kochkünste hatten das ihre dazu beigetragen. »Hat wunderbar gschmeckt, merci vielmals, JP. Essen ist halt der Sex des Alters«, meinte Severin zum Abschied lachend.
Zurück in der leeren Wohnung seufzte er tief, als er an die vielen fröhlichen Abende in geselliger Runde während der Ehezeit dachte. So richtig hatte er sich nie ans Alleinsein gewöhnen können.

In dieser Nacht, nach dem köstlichen aber zu reichhaltigen Essen, mit zwei Flaschen Wein, plus Sassicaia Grappa zum Verdauen, wurde Severin von einem Albtraum heimgesucht. Voller Panik lief er um den Schliersee herum in Richtung Westerberg. Eine Handvoll Ungeheuer mit Tranchiermessern und Gabeln folgte ihm dicht auf den Fersen und wollten ihm dicke Fleischstücke aus dem Körper schneiden. Seine Haut sah braun und knusprig gebraten aus wie bei einem Spanferkel. Severin spürte bereits den keuchenden Atem im Nacken und die Messer am Rücken. Plötzlich versperrte ihm eine seltsame, klein gewachsene Gestalt mit schwarzen Haaren und weißem Bart den Weg.
»Hilfe!«, rief Severin panisch.
Mit einem Ruck wachte er schreiend auf und saß verschwitzt aufrecht im Bett. Die Beine fühlten sich so schwer an, als wäre er die Strecke um den See tatsächlich gerannt. Er kontrollierte seine Haut. Zum Glück konnte er keine Brandblasen finden.
Erleichtert stand er auf und wechselte das durchgeschwitzte T-Shirt.

Das Geschehen hatte sich erschreckend intensiv und wirklichkeitsnah angefühlt und ging ihm den ganzen nächsten Tag nicht mehr aus dem Kopf. Einen Traum, der tagsüber nachwirkt, kannte er, nur die Intensität war ungewohnt. Was hatte das zu bedeuten?
Ich glaub, ich hab eine blühende Phantasie, dachte Severin, aber seine innere Stimme flüsterte: Sauf und friss halt nicht so viel, dann kriegst keine Albträume.
An dem Abend verzichtete er auf Bier und trank nur Wasser. Er hoffte, infolge der Abstinenz ruhiger schlafen zu können.
Die Nacht schien auch zunächst normal und ohne Spuk zu verlaufen. Aber das änderte sich rasch. Wie in einer Wiederholung des letzten Albtraums stand er am Westerberg und erneut versperrte ihm jemand den Fluchtweg. Zum Glück konnte er dieses Mal keine Verfolger sehen.
Irgendwie kam ihm die Gestalt bekannt vor. Das Geschöpf war ein anderthalb Meter großer Zwerg mit weißem Bart und zu Berge stehenden Haaren.
Der wirkt beinah wie ein alternder Punk, geisterte es durch seinen Kopf. Alles war unangenehm spitz an ihm, die Nase, Ohren und Augenbrauen. Die stechenden Augen allerdings strahlten eine Autorität aus, vor der Severin erstarrte.
»Wer bist du – und was willst von mir?«, brachte er unsicher hervor.
»Kennst du mich nicht?«, herrschte ihn sein Gegenüber an.
Endlich lichtete sich der Nebel. Der Berggeist vom Schliersee! Daher ist er mir so bekannt vorgekommen. Nur hab ich ihn viel größer in Erinnerung.
Wie ein Geist aus der Flasche wuchs die Gestalt in den Himmel und eine Stimme drosch von oben auf Severin ein: »Warum hast du mich gerufen?«
»Ich hab dich nicht grufen. Wie kommst auf die Idee?«, stammelte er und wäre gerne davongelaufen, wie früher, wenn er einen Anschiss vom Lehrer bekommen hatte.
»Du Narr!« Die Stimme donnerte wie das Tosen eines Wasserfalls. »Sag, was du von mir willst, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit!«
»Ich? Von dir?« Severin sah ihn verblüfft an. Es schien ihm eher umgekehrt zu sein.
»Ja, du von mir, du Narr!« Der Berggeist sah ihn zornig an.
»Du Narr?« Ärger stieg auf und verdrängte das Unbehagen. Grundlos ein Dummkopf genannt zu werden konnte er überhaupt nicht ausstehen, nicht einmal im Traum.
Das Gefühl weckte ihn mit einem Schlag auf. Was soll denn des? Warum beschimpft der mich als Narr?
Die Uhr zeigte Mittwoch, kurz vor sechs Uhr morgens, und an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Schlechtgelaunt stand Severin viel zu früh an seinem freien Tag auf. Er schaltete die Kaffeemaschine an und kramte in der Tiefkühltruhe nach Croissants, die er unsanft in den Backofen warf. Zu allem Überfluss wollte die Maschine vom Trester befreit, gereinigt, gespült und aufgefüllt werden, bevor sie in Aktion geriet. Die Diva produzierte zur unpassendsten Zeit alles andere – nur keinen Bohnenkaffee.
Severin schlurfte zur Haustür und holte sich den Miesbacher Merkur. Na, wenigstens lag die Zeitung um diese Uhrzeit bereits im Briefkasten. Die mittlerweile fertigen Hörnchen in den schwarzen Kaffee tauchend, blätterte er die Lokalnachrichten durch.
»Mal schauen, was der Kaninchenzüchter-Verband so treibt, und wer von meinen Kunden gestorben ist«, lästerte er vor sich hin.
Seine Gedanken weilten jedoch bei den nächtlichen Träumen. Er überflog die Artikel nur, schaute nach, ob etwas für ihn Wichtiges berichtet wurde. Aber neben den permanent miesen Nachrichten über Krieg und Unruhen, Kindergelddebatten und Hartz IV-Aufstockungen war nichts Interessantes dabei. Diesen Zeitungsteil schob er sofort auf die Seite, bevor er sich allzu heftig in diverse Themen hineinsteigern konnte.
Die Sportnachrichten überflog er auch nur kurz. Er verschlang jedoch alle Berichte über Skirennen, nur endete leider die Saison jetzt Anfang April. Dafür entdeckte er eine Anzeige für ein Hansi-Hinterseer-Konzert.
Waren das doch wunderbare Zeiten, als der nur Ski gfahren ist. So viel zu seiner musikalischen Einstellung zur Unterhaltungs-Musik. Zum Glück singt der Wasi nicht. Allein die Vorstellung, der Markus Wasmeier könnte in die Schlagerbranche wechseln, ließ Severin vor Grausen erschaudern.

Unfall am Berg
Nicht einmal der morgendliche Grant, seine schlechte Laune, half, die nächtliche Begegnung mit dem Berggeist zu verdrängen. Um sich abzureagieren, beschloss Severin, eine kurze Bergtour zu machen. Er packte das Nötigste in einen kleinen Rucksack, schnürte die Bergstiefel und klemmte die Wanderstöcke unter den Arm.